Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
empört. »Sie wurde erst vor fünf Jahren in die Gesellschaft eingeführt.«
Schnell addierte ich fünf zu achtzehn – dem üblichen Alter von Debütantinnen. »Dreiundzwanzig!«, sagte ich entsetzt (und insgeheim triumphierend). »Dann ist sie ja sozusagen eine alte Jungfer. Und du bist doch erst siebzehn!«
»Das spielt überhaupt keine Rolle«, sagte er, riss mir die Karte aus der Hand und zog beleidigt davon.
Beim Abendessen erwähnte Harry beiläufig, er wolle Ulysses vor den Einspänner spannen, damit das Pferd Bewegung habe.
»Wieso reitest du ihn nicht lieber?«, fragte mein Vater. »Den Einspänner brauchst du doch gar nicht.«
»Ulysses war schon länger nicht mehr angeschirrt. Es würde ihm guttun«, sagte Harry.
Es wurde Zeit, meine nächste Salve abzufeuern. Laut fragte ich: »Willst du dich mit ihr treffen?«
Alle am Tisch schienen die Frage interessant zu finden, es wurde ganz still. Alle außer Großpapa hörten auf zu essen und sahen Harry gespannt an, sogar die kleineren Jungen, die noch gar nicht begriffen, was los war. Mutters Kopf fuhr herum, sie sah erst mich an, dann Harry. Nur Großpapa beschäftigte sich weiter in aller Ruhe mit seinem Beefsteak. Harry lief rot an und warf mir einen Blick zu, der mir klar machte, dass er später noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen habe. Noch nie hatte er mich so angefunkelt. Da war etwas in seinem Blick, das an Hass grenzte. Mir wurde angst und bange, und plötzlich kribbelte es mich überall.
»Und wer ist ihr ?«, fragte Mutter.
Großpapas Messer fuhr kreischend über seinen Teller. Er tupfte sich mit der großen weißen Leinenserviette, die er umgebunden hatte, den Schnurrbart ab, bevor er sanft zu seiner einzigen Schwiegertochter sagte: »Großer Gott, Margaret. Wer ist sie, heißt es, nicht wer ist ihr . Das Pronomen steht bei dieser Frage im Nominativ. Das weißt du doch sicher mittlerweile.«
Er betrachtete sie und fuhr dann fort: »Wie alt bist du, Margaret? Bald dreißig, nach meiner Rechnung. Alt genug, um solche Dinge zu wissen, würde ich sagen.« Und damit wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Teller zu. Meine Mutter, die einundvierzig ist, ignorierte ihn.
»Harry?«, sagte sie und sah ihn mit durchbohrendem Blick an. Das Kribbeln an meinem Körper wurde zu juckenden rosa Pusteln. Die Zukunft unserer Familie hing an einem seidenen Faden.
»Ein Mädchen – eine junge Dame, die heute Abend das Picknick in Prairie Lea besucht und mit der ich gern eine kleine Ausfahrt machen würde, Mutter«, stotterte Harry. »Nur ganz kurz.«
»Und wer genau«, fragte Mutter mit eisiger Stimme, »ist diese junge Dame? Kennen wir sie? Kennen wir die Familie?«
»Ihr Name ist Miss Minerva Goodacre. Ihre Familie lebt in Austin. Sie verbringt diesen Monat bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Prairie Lea.«
»Und die heißen …?«, fragte Mutter.
»Reverend und Mrs. Goodacre«, antwortete Harry.
»Meinst du Reverend Goodacre von der Unabhängigen Kirche von Prairie Lea?«, fragte Mutter weiter.
Der Faden wurde immer dünner und durchsichtiger.
»Ja«, sagte Harry und lief noch röter an. Er stieß sich vom Tisch ab und lief mit großen Schritten aus dem Raum, wobei er den Eltern mit gespielter Munterkeit noch über die Schulter zurief: »Dann wäre ja alles geklärt. Ich bleib nicht lange weg.«
Vater sah Mutter an und fragte: »Was sollte das jetzt bitte?«
Mutter bemerkte, dass wir übrigen Kinder mit offenem Mund dasaßen, und blaffte Vater nur an: »Manchmal bist du wirklich schwer von Begriff, Alfred. Wir reden später darüber.«
Sul Ross, der neben mir saß und blitzgescheit war für sein Alter, fing an zu singen: »Harry hat ’ne Freundin, Harry hat ’ne Freun-«
Mutter kam mir jetzt vor wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. »Halt die Klappe, Sul«, zischte ich und stieß ihm den Ellbogen brutal in die kleinen Rippen.
Aus heiterem Himmel sagte Großpapa: »Wurde auch verdammt noch mal Zeit. Ich hab mir schon langsam Sorgen um den Jungen gemacht. Was gibt’s zum Dessert?« Das war eine von Großpapas interessanten Eigenschaften – dass man nie so genau sagen konnte, ob er in Gedanken anwesend war oder nicht.
Das Essen zog sich endlos hin. Was immer es zum Nachtisch gab – in meinem Mund schmeckte er wie Asche. Als SanJuanna hereinkam, um den Tisch abzuräumen, sagte Mutter: »Ihr dürft alle gehen. Alle bis auf Calpurnia.«
Meine Brüder stürmten hinaus, während ich mich auf meinem Stuhl kleinmachte. Vater zündete sich
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