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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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ich es nie an ihm gesehen hatte.
    »Harry«, wisperte ich.
    Er wandte den Kopf, und seine Miene wurde hart. »Was machst du denn hier?«, sagte er. »Geh. Geh ins Bett.« Er striegelte weiter das Pferd.
    Oh, dieser Blick!
    Auch in der Vergangenheit hatte es schon kleinere Verstimmungen zwischen uns gegeben, die waren nicht schön gewesen, doch jedes Mal bald wieder vorübergegangen. Stets hatte ich mich in dem Wissen gesonnt, dass ich für alle Zeit sein Liebling war. Seine Liebe war für mich einfach selbstverständlich gewesen, ich wickelte mich hinein wie in eine Decke. Doch das jetzt war etwas anderes. Ich hatte ihn zutiefst verletzt, während ich versuchte, uns zu schützen, ihn zu schützen. Nein, wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben: um mich selbst zu schützen. Zum ersten Mal fühlte ich, wie sich der eisige Griff großen Kummers um mein Herz legte.
    Erschrocken tat ich einen Schritt zurück aus dem Schein der Laterne und stand allein unter dem Mond. Ein Hickser oder vielleicht auch ein Schluchzen löste sich aus meiner Kehle. Ich machte kehrt und rannte mit weichen Knien zurück zum Haus. Ich schaffte es noch zur Tür hinein, doch auf den unteren Stufen sackte ich zusammen. Dort fand Harry mich eine halbe Stunde später, ein Häufchen Elend im weißen Nachthemd, das schniefend in der Dunkelheit lag, vor lauter Verstörung unfähig, sich zu rühren, und nur mit Idabelle als Gesellschaft, die auf leisen Pfoten aus der Küche herübergetappt war. Schwach konnte ich ihn erkennen, wie er da stand, die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Es tut mir so leid, Harry«, flüsterte ich.
    »Es gibt ein paar Dinge auf der Welt, die sind nichts für Kinder. Die sind nur für Erwachsene«, sagte er.
    Noch nie hatte ich Harry zu den Erwachsenen gezählt. Meine Brüder und ich, wir waren immer die Kinder gewesen. Aber so, wie er dieses Wort jetzt aussprach, wusste ich, er hatte irgendeine unsichtbare Grenze zu einem anderen Land übertreten, in unseren Kreis der Kinder würde er nie mehr zurückkehren.
    »Ich wollte dir keinen Ärger machen«, jammerte ich.
    »Doch, genau das wolltest du. Aber wieso du mir das antun wolltest, das verstehe ich nicht.«
    Für die Familie! Für dich!, hätte ich am liebsten laut gerufen. Doch im tiefsten Inneren wusste ich, dass es für mich selbst gewesen war, und ich schämte mich.
    Im Dunkeln schlug die große Standuhr drei Mal.
    »Du solltest schlafen gehen«, sagte Harry tonlos.
    Ich klammerte mich an die Tatsache, dass diese Worte zwar kalt, aber doch nicht so grob klangen wie das, was er zuvor im Stall zu mir gesagt hatte. Bestimmt war alles wieder gut. Bestimmt würde er den Arm um mich legen, mich hinaufbringen und ins Bett stecken.
    Doch das tat er nicht. Stattdessen flüsterte er: »Ich wünschte, du hättest das nicht getan.« Damit ging er an mir vorbei nach oben und überließ es mir, das Blutbad zu betrachten, dass unter meinem kurzen Oberbefehl angerichtet worden war. Mein Feldzug war erfolgreich gewesen, doch er hatte mich meinen Bruder gekostet. Erst als die Uhr vier schlug, schaffte ich es, hinauf in mein Bett zu schleichen.
    Am nächsten Morgen war ich so erschöpft, dass ich liegen blieb. Ich stellte mich krank und schlief immer wieder ein. Es war nicht schwer, Mutter glauben zu machen, dass ich wirklich krank war, angesichts meiner Lustlosigkeit und meinem anhaltenden Ausschlag. Viola und sie schickten mir andauernd heiße Brühe und Backpulverumschläge. Als dann spät am Nachmittag die Rede auf Stärkungsmittel, Abführtropfen und Lebertran kam, nahm ich mich zusammen und aß ein bisschen gekochtes Hühnerfleisch, um solche drastischen Maßnahmen zu vermeiden. Jedes Kind in unserem Haus, das länger als einen Tag im Bett liegen blieb, bekam unweigerlich Lebertran verabreicht. Allein die Aussicht darauf führte oft genug zu einer wundersamen Heilung.
    Travis kam herein, um mir sein Kätzchen Doc Holliday zu leihen, das mich aufheitern sollte. (Jesse James war gerade unpässlich.) J. B. kletterte zu mir aufs Bett und kuschelte eine Weile mit mir, damit es mir besser ging. Sul Ross brachte einen Strauß zerzauster Wildblumen für mein Nachttischchen und zeigte mir stolz den blauen Fleck an seinen Rippen, wo ich ihn geboxt hatte. Meinen eigenen, noch viel eindrucksvolleren zeigte ich ihm lieber nicht, der befand sich doch an einer zu heiklen Stelle.
    Harry besuchte mich nicht.
    Am folgenden Morgen wankte ich hinunter zum Frühstück. Zu meiner Erleichterung warf Harry mir

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