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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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übernachteten im Driskill Hotel. Wir bekamen Eiscremesoda und tranken nachmittags Tee im Crystal Room.
    Monat für Monat las sie ausführlich ihre Zeitschriften, die mit der Post kamen – The Ladies’ Home Journal und McCall’s. Nach den Vorlagen, die sie dort sah, nähte sie Seidenblumen, mit denen sie den Salon dekorierte. Die Wildblumen hingegen, die den ganzen Frühling über auf unseren Wiesen blühten, kamen bei ihr nie in eine Vase. Manchmal pflückte ich mir welche und stellte sie in einen Krug neben mein Bett. Sie sahen schön aus, doch sie hielten nie länger als einen oder zwei Tage. Man konnte nicht einmal sagen, dass sie verwelkten – sie lösten sich auf. Am Ende hatte man nur eine Vase mit stinkendem Wasser.
    Meine Raupe hatte keinen Blick für die Welt um sie herum. Genauer gesagt, sie hatte für nichts einen Blick außer für die Blätter, die ich ihr jeden Tag brachte. Sie aß und schlief und aß und schlief, und in den kurzen Intervallen, in denen sie gerade nicht aß oder schlief, schied sie an ihrem hinteren Ende winzige, feste grüne Kügelchen aus. Also musste ich Tag für Tag ihre Behausung säubern. Das hatte ich mir nicht so vorgestellt, und bald war ich es auch ziemlich leid, doch ich sagte mir immer wieder, dass sich die ganze Mühe gelohnt haben würde, wenn sich die Raupe erst entpuppte und zu einem wunderschönen Schmetterling würde. Petzi wurde unglaublich fett, wie eine Wurst sah sie aus. Einmal brachte ich ihr das falsche Grünzeug, da schmollte sie und wollte nicht fressen. Ich war schon drauf und dran, sie hinauszuwerfen, weil sie mir so viel Arbeit machte und auch nicht gerade sehr unterhaltsam war.
    Doch als ich das Großpapa gegenüber erwähnte, tadelte er mich. »Vergiss nicht, Calpurnia, Petzi ist nicht dein Haustier. Sie ist ein Tier, das dem natürlichen Ablauf der Dinge folgt. Natürlich ist es leichter, sich für Tiere der höheren Ordnungen zu interessieren, ich muss gestehen, ich habe diese Schwäche auch, doch das darf nicht heißen, dass wir unser Studium der niedrigeren Ordnungen darüber vernachlässigen. Wer das macht, der beweist damit nur seinen Mangel an Zielstrebigkeit und eine gewisse Oberflächlichkeit seines wissenschaftlichen Interesses.«
    Also putzte ich weiter den Raupendreck weg, alles im Dienste der Wissenschaft. Dann hörte Petzi wieder auf zu fressen, aber dieses Mal fand ich keinen Grund. Ich kontrollierte noch einmal ihr Futter, doch es waren die richtigen Blätter. Sie war einfach nicht interessiert. Du verwöhnte, beleidigte Raupe, dachte ich, ich sollte dich hinaus auf den Rasen werfen. Dann kannst du sehen, wie du mit den Vögeln klarkommst, das hast du dann davon, Madame.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich zu meiner Überraschung, wie weit sie schon mit ihrem Kokon gediehen war. Sie hatte also gar nicht geschmollt. Sie hatte ausgeruht und Pläne für die bevorstehende Arbeit gemacht. Um ein Haar hätte ich eine völlig schuldlose Raupe hinausgeworfen.
    Den ganzen Tag lang presste sie einen feinen grauen Faden aus dem vorderen Ende (glaube ich jedenfalls) heraus, spannte ihn geschäftig hierhin und dorthin und modellierte auf die Weise einen ziemlich unordentlichen Kokon, bei dem hier und da Fadenenden herausragten. Das Ganze sah ziemlich schlampig aus, kein bisschen besser als meine Strickarbeiten, und ich empfand Mitleid mit ihr, doch sie spann sich immer weiter in diese Kapsel ein.
    »Gute Nacht, Petzi, schlaf schön«, flüsterte ich. Petzi regte sich noch einmal und legte sich dann in ihrem selbstgewählten Gefängnis zurecht. Zwei volle Wochen lang rührte sich der Kokon nicht, während Petzi damit beschäftigt war, auf magische Weise nach und nach ihre Teile im Schlaf neu zu ordnen. Die Vorstellung hatte etwas Großartiges und Geheimnisvolles, gleichzeitig aber, wenn man zu lange darüber nachdachte, auch etwas Abstoßendes. Es zwang mich, über das Leben nachzudenken. Und über den Tod.
    Noch nie hatte ich einen wirklichen, lebenden Menschen gesehen, als er schon tot war, höchstens vielleicht die Daguerreotypie meines Onkels Crawford Steele, der mit drei Jahren an Diphtherie gestorben war und in einer dicken Hülle weißer Spitzen lag. Seine Augen waren eingesunken, man konnte etwas Weißes darin sehen, daher wusste man, dass er nicht einfach schlief, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich ging zu Harry und fragte: »Harry, hast du schon mal einen Toten gesehen?«
    »Ähm – nein«, sagte er. »Wieso fragst

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