Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
– oder Belle, wer auch immer das jetzt war – flatterte mit den Flügeln, wobei ein trockenes, fremdartiges, morbides Geräusch entstand. Während ich mich für die Schule fertig machte, vermied ich es, zu dem Glas hinzusehen, und bei jedem Flügelschlagen zuckte ich zusammen. Ich musste die Motte aus dem Glas lassen, das sah ich ein, aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Damit war ich die meiste Zeit in der Schule beschäftigt – nicht darüber nachzudenken.
Als ich nach Hause kam, trieb ich mich erst einmal eine ganze Weile unten herum, übte sogar freiwillig Klavier, bis meine Mutter mich nach oben schickte, damit ich mir eine frische Schürze anzog. Ich schleppte mich also nach oben, und als ich die Hand an den Türknauf legte, verkrampfte sich alles in mir: Was, wenn das Tier inzwischen herausgekommen war? Hatte ich den Deckel auch wirklich fest draufgeschraubt nach dem letzten Öffnen? Was, wenn diese Motte jetzt frei durch mein Zimmer flog? Doch dann rief ich mich selbst zur Ordnung. Calpurnia Virginia Tate, es ist wirklich lächerlich, wie du dich benimmst. Bist du nun eine Wissenschaftlerin oder nicht? Also los jetzt. Es ist eine Motte. Einfach nur eine Motte.
Das hat dann gewirkt. Vorsichtig spähte ich um die Tür herum. Da saß sie, genau wie ich sie morgens verlassen hatte, zu groß, um sich auch nur umzudrehen. Wenn sie sich bewegte, schlugen die Flügel ans Glas.
»Petzi«, sagte ich. »Was mache ich bloß mit dir? Ich muss herausfinden, was für eine Spezies du bist. Und ich muss ein größeres Glas für dich finden.«
Ich nahm Großpapas Systematik der Insektenwelt aus dem Bücherregal und sucht nach der Ordnung Lepidoptera. Aufgrund der Farbe und der geradezu lächerlichen Größe musste meine Motte zu den Saturniidae gehören. Um aber sagen zu können, wozu sie am wahrscheinlichsten gehörte, hätte ich ihre ausgebreiteten Flügel näher betrachten müssen, doch dafür war das Glas einfach zu eng. Es half alles nicht, ich musste entweder ein größeres Glas besorgen oder die Motte freilassen. Eine Weile starrte ich sie an. Hatte man sich erst einmal an ihre absurde Größe gewöhnt, sah sie gar nicht so schrecklich aus. Niedliche fedrige Fühler hatte sie, das musste man ihr lassen. Ich hatte dazu beigetragen, dass sie so groß geworden war. Meinetwegen steckte sie jetzt in dem Glas fest. Ich konnte jetzt nicht einfach so tun, als existierte sie nicht.
»Na schön, Petzi, dann gehen wir jetzt mal Großpapa besuchen und hören uns an, was er zu sagen hat.« Mit ausgestreckten Armen griff ich nach dem Glas und trug es nach unten. Auf dem ganzen Weg spürte ich Petzis Pochen.
In der Eingangshalle traf ich auf Harry. Er warf einen Blick auf Petzi und sagte: »Du lieber Himmel, ist das dein Schmetterling? Sieht eher aus wie ein Albatross.«
»Ha, ha«, sagte ich.
»Hast du vorher gewusst, dass sie sich so entpuppt, deine Raupe?«
»Doch, sicher«, sagte ich.
Harry warf mir einen prüfenden Blick zu, dann sagte er: »Lass mal sehen. Der ist wirklich preisverdächtig, findest du nicht? Wenn es beim Wettbewerb auf der Landwirtschaftsmesse eine Kategorie für Motten gäbe, dann würde die hier den ersten Preis holen, mit Leichtigkeit.«
Ein interessanter Gedanke – neben den Kategorien für Mastschweine und Rinder und hausgemachte Marmeladen auch eine für Motten? Mir fiel wieder ein, dass es bei der Ausstellung jedes Jahr auch einen Stand gab, zu dem Kinder mit ihren Haustieren kamen, Katzen, Hunden, Papageien – lauter langweilige, stinknormale Tiere. Warum sollte man nicht einmal etwas Interessanteres vorstellen, eine Riesenmotte zum Beispiel?
»Sag mal, Harry«, begann ich, »meinst du, ich könnte Petzi für die Haustierschau anmelden?«
Harry lachte. »Als Haustier würde ich sie kaum bezeichnen, Callie Vee.«
»Na und? Dovie Medlin ist letztes Jahr mit ihrem Goldfisch aufgekreuzt, und der ist ja nun auch nicht gerade ein Haustier. Außerdem müssen die ja auch keine Kunststücke vorführen oder so. Sie müssen einfach nur dasitzen, und dann kommen die Juroren und sehen sie sich an. Sie würde doch sicher ein paar Extrapunkte kriegen, weil sie so anders ist, meinst du nicht?«
»Bestimmt, aber bis dahin sind es noch ein paar Monate. Wie willst du sie bis dahin halten? In dem Glas kann sie nicht bleiben.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Ich bin ja schon dabei, mir was für sie auszudenken. Wie alt werden Motten überhaupt?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Harry.
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