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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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schlug mir mit der flachen Hand vor die Stirn –, aber ich kann es einfach nicht finden.«
    »Ich glaube, Calpurnia«, sagte Großpapa, »du musst eine Nacht darüber schlafen. Wir werden es finden. Wir müssen es finden. Und wenn wir jedes einzelne grüne Pflänzchen in dieser Gegend untersuchen müssen.«
    Mit finsterer Miene betrachtete er das Glas mit dem Mutanten. Er seufzte, und obwohl seinem Gesicht kein Vorwurf abzulesen war, brach dieser Seufzer mir doch fast das Herz. In diesem Moment fasste ich den Beschluss, schlimmstenfalls auf allen vieren und mit einem Vergrößerungsglas in der Hand die ganzen sechshundert Morgen unseres Grundstückes abzusuchen, ganz egal, wie lange ich dafür brauchen würde. Wir verschlossen das Laboratorium und gingen zurück zum Haus. Nie im Leben hatte ich mich so elend gefühlt.
     
    An Schlaf war in dieser Nacht kaum zu denken. Wie eine aufgebahrte Leiche lag ich flach auf dem Rücken, ich brachte nicht einmal so viel Energie auf, um mich hin und her zu werfen. Frage für mein Notizbuch: Wie konnte Calpurnia Virginia Tate so dumm sein? Ausgezeichnete Frage. Mein Großvater hatte mir doch beigebracht, den Fundort jedes Exemplars sofort zu notieren, und das hatte ich auch getan, bis zu dem Moment – dem einzigen Moment! –, in dem es wirklich darauf ankam. Noch eine Frage für mein Notizbuch: Wie konnte ich erwarten, dass Großpapa mir je verzeihen würde? Ebenfalls eine ausgezeichnete Frage, Calpurnia. Vielleicht vergibt er dir ja nie. Vielleicht wird er deinen Anblick nie mehr ertragen können. Das wäre dann dein Ende.
    Am nächsten Morgen stand ich mit tiefen dunklen Ringen unter den Augen auf. Mutter sah mich besorgt an. Beim Frühstück schaffte ich es einfach nicht, Großpapa anzusehen.
    Die Schule war eine Qual, da ich einerseits todmüde war und andererseits nervös und angespannt. Ich war gefährlich nahe daran, Miss Harbottle anzublaffen und für den Rest meines Lebens in der Ecke stehen zu müssen, als sie mich zwang, an der Tafel eine lange Divisionsaufgabe vorzurechnen. Mein Ergebnis war dann auch prompt falsch.
    »Callie, was ist denn heute los mit dir?«, fragte Lula in der Pause.
    »Nichts, Lula, mir geht’s gut!«, schrie ich. Vor Schreck tat sie ein paar Schritte rückwärts, dann drehte sie sich um und spielte mit der doofen Dovie Medlin. »He, Lula, tut mir leid, komm zurück«, rief ich, doch da läutete Miss Harbottle schon ihre Glocke.
    Nach Schulschluss schleppte ich mich nach Hause, in großem Abstand hinter meinen Brüdern, die es aufgegeben hatten, mich aus meiner düsteren Stimmung zu locken. Während ich so vor mich hin trottete, dachte ich an Ajax. Wenn ich bloß nicht so müde wäre, vielleicht könnte ich dann klarer denken. Dieser dumme Hund war der Schlüssel zu allem. Ich hatte ihm die Schildkröte weggenommen. Wir waren vom Fluss weggegangen. Ich hatte ihn am Halsband gehalten. Weil … Weil … Weil er seine Schnauze in ein tiefes Loch geschoben hatte.
    »Ja!«, brüllte ich so laut, dass meine Brüder sich nach mir umdrehten. Ich hüpfte auf und ab und kreischte: »Ja! Der Dachs, der Dachs! Ich weiß jetzt, wo es war! Ich weiß, wo die Wicke ist!«
    Ich rannte vor zu Lamar und Sam Houston und drückte ihnen meine Schulbücher in die Hand. »Nehmt schon mal meine Bücher mit, ich muss den Mutanten suchen!« Und damit rannte ich los ins Gebüsch, in Richtung eines der Wildpfade.
    »Was hast du denn vor?«, rief Lamar mir hinterher. »Was soll das sein, ein Mutant?«
    Aber ich hatte keine Zeit, ich musste mitten durch das dichte Gestrüpp, und während ich rannte, pumpte mein Herz das Blut durch meine Adern: ja, ja, ja. Es war der größte Dachsbau gewesen, den ich in meinem Leben gesehen hatte, so groß, dass ich mir vorgenommen hatte, zurückzukommen und ihn genauer zu untersuchen. Und die Wicke hatte Großpapa doch nur ein Stück entfernt gefunden, oder? Ich konnte sie finden, ich würde sie finden. Die Welt gehörte mir. Mein Großvater gehörte wieder mir.
    Zerkratzt, mit Blasen an den Füßen und durstig trat ich drei Stunden später, als es schon anfing zu dämmern, in besagten Dachsbau und hätte mir fast den Knöchel gebrochen. Außerdem weckte ich den Dachs auf, der gereizt zu zischen begann und in der Tiefe seines Baus herumzulärmen begann, woraufhin ich mein Bein, obwohl es höllisch wehtat, in null Komma nichts herauszog.
    Viel Zeit blieb mir nicht. Bald würde es zu dunkel sein, um etwas sehen zu können, der Dachs würde

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