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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Einschläfernd tropfte der Regen aufs Dach.
    Ich wachte davon auf, dass Großpapa seine tropfende Ölhaut an einen Nagel hängte.
    »Guten Tag, Calpurnia. Geht es dir gut?«
    »Ja, Großpapa, ich war bloß so müde von dem vielen Stricken heute.«
    »Und wie gefällt dir das Stricken?«
    »Es gibt Schlimmeres«, räumte ich ein. »Wenn es nur nicht so schrecklich viele Socken zu stricken gäbe! Zu Weihnachten soll ich allen Socken schenken, das sind furchtbar viele. Ich hoffe bloß, du magst auch einfarbige. Muster kann ich nämlich noch nicht.«
    »Ich mag meine Socken gern einfarbig. Und Musterstricken habe ich auch nie gelernt.«
    »Du kannst stricken?«, fragte ich überrascht.
    »O ja, und stopfen auch. Manche der Männer in meinem Regiment waren ausgesprochen begabt darin.«
    Er sah meinen Blick und erklärte mir den Grund. »Im Feld mussten wir uns selbst helfen können. Wenn du neue Socken brauchtest, dann hast du sie dir eben gestrickt. Es gab keine Frauen oder Schwestern – oder auch Enkelinnen –, die sich darum gekümmert hätten, und Päckchen von zu Hause erreichten nur selten ihren Empfänger. Ich erinnere mich noch an einen Sergeanten, der zu Weihnachten nach Hause schrieb und seine Frau um ein neues Paar Kaninchenfellhandschuhe bat. Mitten im Sommer kamen sie an, doch bis dahin waren ihm schon zwei Finger erfroren. Die Daumen waren ihm wenigstens beide geblieben, darüber war er froh. Die beiden leeren Finger in den Handschuhen stellten jetzt natürlich ein Problem dar. Sie waren immer im Weg, wenn er sein Gewehr hielt, also schnitt er sie am Knöchel ab und nähte sie zusammen. Soweit ich mich erinnere, hat er es richtig gut gemacht.«
    Sich selbst helfen können. Darüber musste ich eine Weile nachdenken. Wenn unsere jungen Soldaten Stricken gelernt hatten, wenn auch mein Großvater es gelernt hatte, dann würde es mich vielleicht nicht umbringen, wenn ich es auch tat.
    Großpapa sah mich an. »Ich nehme an, deine Mutter möchte, dass du auch kochen lernst. Wir mussten auch für uns selbst kochen.«
    »Großpapa, kann es sein, dass du versuchst, mich aufzuheitern?«
    Er schmunzelte. »Vermutlich.«
    »Mutter hat mir angedroht, dass ich jede Woche ein neues Gericht lernen soll. Das wäre ja vielleicht nicht so schlimm, aber erst hat man stundenlang Arbeit damit, und dann ist alles in einer Viertelstunde aufgegessen. Anschließend schrubbt man die Arbeitsplatten und wischt die Küche, und ohne einen Moment Pause geht es gleich wieder weiter mit dem nächsten Essen. Was hat man dann davon? Und wie hält Viola das aus?«
    »Kochen ist alles, was Viola gelernt hat«, sagte Großpapa. »Und wenn jemand nur eine Sache kann, dann ist das nicht so schwer auszuhalten. Viola weiß eins: Ihr Leben könnte sehr viel schwerer sein. Viola arbeitet im Haus, nicht auf dem Feld. Aber sie hat Tanten und Onkel, die in Bastrop mit der kurzen Hacke tief gebückt auf den Baumwollfeldern arbeiten und den langen Sack hinter sich her schleppen.«
    »Vater erlaubt nicht, dass auf unseren Feldern mit der kurzen Hacke gearbeitet wird.«
    »Und weißt du auch, warum nicht?«, fragte Großpapa.
    »Nein, Großpapa, das weiß ich nicht.«
    »Weil ich ihm Gelegenheit verschafft habe, einen ganzen Tag lang auf dem Feld zu arbeiten. Da war er etwa so alt wie du heute. Ich hoffe, er wird es bei deinen Brüdern genauso halten.«
    »Glaubst du, er würde mich es auch einmal ausprobieren lassen?«
    »Ich bezweifle, dass er seine Tochter dort draußen sehen möchte.«
    »Hmm. – Sag mal, was hast du heute draußen gefunden?«
    Er zog seine Brille aus der Tasche und stellte seinen Leinensack auf den Arbeitstisch. »Hier habe ich ein paar hübsche Exemplare des S angre de drago, auchDrachenblut genannt . Die Indianer benutzten es, um Entzündungen des Zahnfleischs zu heilen. Ich habe auch Oxalis violacea gesehen, aber davon haben wir genug, glaube ich. Und sieh mal hier, das ist ein Croton fruticulosus . Noch nie habe ich so spät im Jahr noch ein blühendes Exemplar gesehen. Es gehört zu den Wolfsmilchpflanzen. Wir wollen mal sehen, ob sie Wurzeln treibt.«
    Ich fand Pflanzen kein bisschen so interessant wie Insekten und Insekten weniger interessant als größere Tiere, doch Großpapa hatte mir erklärt, wie alle voneinander abhängen, eins vom anderen, und dass man alle phyla studieren und ihre Bedeutung erkennen muss, um jedes einzelne phylum , jeden einzelnen Stamm zu verstehen. Also sah ich die schlaffen kleinen Büschel an, die er

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