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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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»Hallo, Callie, wo warst du denn? Ich hab dich vermisst.«
    »Ich war botanisieren, J. B., Pflanzen sammeln«, sagte ich laut und überschwänglich. Sowohl meine Mutter als auch mein Großvater sahen auf. »Und dann bin ich in den Dachsbau getreten. Kann sein, dass ich mir den Knöchel gebrochen habe.«
    »Wirklich?«, fragte J. B. »Kann ich mal sehen? Ich hab noch nie einen durchgebrochenen Knöchel gesehen.«
    »Später«, murmelte ich.
    Mutter wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Teller zu, doch Großpapa sah mich weiter an. Ich hatte das Gefühl, gleich zu platzen. Also sah ich wieder Jim Bowie an und sagte: »Weißt du was, J. B.? Kann sein, dass ich etwas ganz Besonderes gefunden habe, eine ganz besondere Pflanze. Doch, wirklich. Sie ist jetzt draußen im Laboratorium, aber wenn du willst, zeige ich sie dir später. Übrigens solltest du lieber nicht so mit deinen Erbsen herumspielen.«
    Ich schaute rasch zu Großpapa hinüber. Mit großer Konzentration sah er mich noch immer an. Wir begannen mit dem Hauptgericht. Bis zum Portwein würde es noch eine gute halbe Stunde dauern, doch dann tat Großpapa etwas, was in der gesamten Geschichte der abendlichen Tafelrunden noch nie vorgekommen war: Er verließ den Tisch, noch bevor der Port serviert wurde. Er erhob sich, tupfte noch einmal mit der Serviette über seinen Bart, verneigte sich und sagte zu meiner Mutter: »Wieder ein köstliches Essen, Margaret, wie immer. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.« Er verließ das Esszimmer durch die Tür, die in die Küche führte. Alle starrten wir ihm mit offenem Mund hinterher. Ich hörte, wie die Verandatür hinter ihm zuschlug, dann das Geräusch seiner Stiefel auf den Stufen. Keiner von uns hatte dergleichen je erlebt. Meine Mutter fasste sich als Erste und funkelte mich an.
    »Hast du irgendetwas damit zu tun?«, wollte sie wissen.
    »Ich doch nicht!« Dabei hob ich den Blick keine Sekunde von meinem Teller.
    Nun versuchte meine Mutter, aus meinem Vater etwas herauszubekommen. »Alfred, geht es Großvater Walter gut?«
    »Ich denke doch«, antwortete Vater, doch auch er sah völlig überrascht aus.
    Jim Bowie, der noch immer mit seinen Erbsen herumspielte, anstatt sie tapfer zu essen, witterte eine günstige Gelegenheit. »Bitte, Mutter, dürfte ich vielleicht auch auf-«
    »Nein, natürlich nicht. Sei nicht albern.«
    »Aber Großpapa durfte doch –«
    »Hör jetzt auf damit, J. B., sofort.«
    Das restliche Essen verlief in allgemeinem Schweigen. Nachdem alle aufgestanden waren und SanJuanna abgeräumt hatte, musste ich eine geschlagene Stunde am Tisch sitzen bleiben und verpasste den Glühwürmchenwettbewerb. Doch was kümmerte mich das schon? Dass ich nicht ins Laboratorium konnte, brachte mich schier um. Ich ertappte mich dabei, wie ich verzweifelt die Hände rang, eine Geste, die ich sonst nur aus überkandidelten sentimentalen Geschichten kannte. Der letzte Schlag der Uhr war noch nicht verklungen, da war ich auch schon von meinem Stuhl aufgesprungen und humpelte zur Küche hinaus. Viola fütterte die Hauskatze Idabelle, während SanJuanna noch beim Abwasch war.
    »Hör mal, du –«, sagte Viola, als ich zur Tür hinausstürzte und sofort mit quietschenden Sohlen stoppte. Auf den Stufen der hinteren Veranda, im Dunkeln, saß Großpapa. Er streichelte eine der Hofkatzen, rauchte eine Zigarre und schaute in den Himmel. Aus der Küche hinter uns kam das vertraute Klappern des Geschirrs, das gerade weggeräumt wurde. Irgendwo in der Dunkelheit zwitscherte ein Nachtvogel. Einen Moment lang stand ich still da. Mein ganzes Leben schien in der Schwebe zu hängen.
    »Calpurnia«, sagte Großpapa, »es ist ein so herrlicher Abend. Magst du dich nicht zu mir setzen?«

 
     
     
    Zwölftes Kapitel
     
    EINE
    WISSENSCHAFTLICHE
    STUDIE
     
    Es gibt nicht viele, die ein Vergnügen daran finden, innere wichtige Organe sorgfältig zu untersuchen und in vielen Exemplaren einer und der nämlichen Art miteinander zu vergleichen.
     
     
    Am folgenden Samstag brachen Großpapa und ich im Einspänner nach Lockhart auf. Meinen Eltern sagte ich, ich wolle dort in die Bibliothek gehen. Großpapa brauchte keine Ausrede, er bat einfach Alberto, ein Pferd anzuspannen. Auch wenn er sich aus den häuslichen Angelegenheiten zurückgezogen hatte, begegnete ihm doch nach wie vor jeder mit großem Respekt. Sein Name wirkte wie ein goldener Schlüssel, der Türen öffnete, die mir sonst vielleicht verschlossen geblieben

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