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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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und betrachtete es. Zu Beginn seines Daseins war es ein vollkommenes Quadrat gewesen, doch im Laufe der Zeit hatte es sich in ein schiefes Trapez verwandelt. Alle aufgestickten Buchstaben neigten sich nach rechts. Wie sollte ein Mensch das hinkriegen, dass alle Stiche gleich groß wurden? Und dass die Fadenspannung immer gleich war? Und die wichtigste Frage: Wen interessierte das alles?
    Nun ja, diese letzte Frage konnte ich immerhin beantworten: Meine Mutter interessierte es, und anscheinend auch den Rest der Menschheit, auch wenn ich keinen Grund dafür finden konnte. Und mich wollte man dazu zwingen, obwohl mir das alles so egal war. So was Albernes! Ich pfefferte den Stickrahmen quer durchs Zimmer.
    Zwei Stunden später ging ich mit meiner Arbeit nach unten. Als Hausaufgabe hatten wir »Herzlich willkommen« in blumiger Schrift sticken sollen. Bis »Herzl« war ich gekommen, aber es war alles krumm und schief, deshalb hatte ich es wieder aufgetrennt und das ganze H neu gestickt, um es Mutter zu zeigen.
    »Ist das alles, was du gemacht hast?«, fragte sie.
    »Das ist ein großer Buchstabe! Ein Anfangsbuchstabe!«
    »Schon gut, schon gut. Nicht so laut. Du hast schon sauberer gestickt, Calpurnia, daher weiß ich, dass du es kannst. Du musst dich nur ein bisschen mehr bemühen.«
    Oje, wie wir dieses Wort hassten, meine Brüder und ich – bemühen!
    »Kann ich jetzt gehen?«
    »Ja, du darfst gehen. Aber sei pünktlich zum Essen zurück.«
    Während Mutter schon die Lampen im Salon anzündete, stopfte ich mein Stickzeug zurück in den Beutel und sauste zur Haustür hinaus. Viel Licht gab es nicht mehr, zu wenig, um nach tagaktiven Tieren und Pflanzen zu schauen. Na großartig. Ich sah schon die große Überschrift in der Zeitung: Karriere junger Wissenschaftlerin für alle Zeit wegen dummer Stickarbeit beendet. Unermesslicher Verlust für die Gesellschaft. Wissenschaftliche Gemeinde trauert.
    Schäumend vor Wut lief ich zum Fluss hinunter. Als ich dort ankam, wurde es dunkel, und bald darauf hörte ich Violas Glocke in der Ferne.
    Ich trampelte durch die Küche, um mich zu waschen, und fragte Viola: »Wieso muss ich eigentlich handarbeiten und kochen lernen? Wieso? Kannst du mir das sagen? Na?«
    Ich gebe zu, es war ein schlechter Moment für so eine Frage – Viola war gerade dabei, die letzten Klumpen aus der Sauce zu schlagen –, doch sie legte doch eine kurze Pause ein, um mich völlig verwirrt anzusehen, so als spräche ich plötzlich Altgriechisch mit ihr. »Was ist das denn für eine Frage?«, antwortete sie nur, bevor sie weiter die Sauce im dampfenden, duftenden Topf schlug.
    Du lieber Himmel, was für eine traurige Reaktion! War die Antwort denn ein so fest verankerter Teil unserer Art zu leben, dass niemand überhaupt einmal innehielt, um auch nur über die Frage nachzudenken? Wenn die Menschen in meiner Umgebung nicht einmal die Frage verstanden, dann konnte es keine Antwort darauf geben. Und wenn es keine Antwort gab, dann war ich verdammt zu einem Leben, das ausschließlich aus solchem Frauenkram bestand. Ich war am Boden zerstört.
    Nach dem Abendessen ging ich in mein Zimmer, zog mein Nachthemd an und las. Ich verschlang voller Begeisterung die Dickens-Bände, die Großpapa mir geliehen hatte. Und war schon bis Oliver Twist gekommen. Ich bitte noch um etwas Suppe, Sir. Die Lebensumstände des armen Kerls waren so übel, dass ich meine eigene Lage in etwas rosigerem Licht sah.
    Ich ging nach unten, um mir ein Glas Wasser zu holen. Mutter und Vater saßen bei offener Tür im Salon.
    »Was sollen wir nur mit ihr machen?«, fragte Mutter, und ich blieb wie angewurzelt auf dem Treppenabsatz stehen. Mit ihr – es gab nur eine Sie, über die sie sprachen. »Die Jungen werden ihren Weg schon gehen, aber was wird mit ihr? Dein Vater füttert sie regelmäßig mit Dickens und Darwin. Aber dauerndes Lesen führt oft zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben. Vor allem bei jungen Menschen. Und ganz besonders bei jungen Mädchen.«
    Wir leisten wichtige Arbeit! Denkt doch bloß mal an unsere Pflanze! , hätte ich am liebsten gebrüllt. Aber dann wüssten sie, dass ich gelauscht hatte, und mir würde wirklich etwas blühen.
    »Ich kann nichts Schlechtes darin sehen«, bemerkte mein Vater.
    »Den ganzen Tag rennt sie mit einem Schmetterlingsnetz draußen herum. Sie versteht nichts von Handarbeiten und auch nichts vom Hauswirtschaften«, sagte Mutter.
    »Viele Mädchen ihres Alters kennen sich damit nicht aus«,

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