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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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oder weniger verfolgt, doch meine Näharbeit hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr inspiziert. Eines Tages wollte sie sich ansehen, wie weit ich damit gekommen sei. Widerwillig holte ich meinen Nähbeutel, und sie kramte kurz darin herum. »Das hier hast du gemacht?«
    »Ja, Mutter.«
    »Bist du stolz darauf?«
    Ob ich stolz darauf war? Ich dachte darüber nach. War das eine Fangfrage oder nicht? Ich wusste nicht, welche Antwort wohl am klügsten wäre. »Ähm …«
    »Ich hab dich etwas gefragt, Calpurnia.«
    »Nein, Mutter, besonders stolz bin ich wohl nicht darauf.«
    »Und warum machst du deine Arbeit dann nicht so, dass du stolz darauf sein kannst?«
    Wieder dachte ich nach. Eine schlagfertige Antwort fiel mir nicht ein, also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als bei der Wahrheit zu bleiben. »Vielleicht, weil Nähen so langweilig ist?« Eine ehrliche Antwort, aber auch eine törichte, das war mir im selben Moment klar, als sie mir aus dem Mund schlüpfte.
    »Ah«, sagte Mutter, »langweilig.«
    Das war immer ein schlechtes Zeichen, wenn sie wie ein Papagei meine eigenen Worte wiederholte. Apropos Papageien: Das waren wirklich interessante Vögel, die so alt wurden, dass man sie sogar testamentarisch vererbte. Großpapa hatte mir einmal sogar von einem Papagei erzählt, der über hundert Jahre alt wurde und über vierhundert Sätze nachsprechen konnte, und das so genau wie jeder Mensch …
    »Calpurnia, ich glaube nicht, dass du mir …«
    Einen Papagei würde ich sicher nicht bekommen (Großpapa hatte mir auch erzählt, dass sie sehr, sehr teuer seien), aber deswegen war doch nicht ausgeschlossen, dass ich einen kleineren Vogel haben dürfte, einen Nymphensittich oder vielleicht einen Wellensittich … Mutter bewegte die Lippen … Hatte sie gerade »Üben« gesagt?
    »Das muss besser …«
    Wenn es gar nichts anders ging, dann wäre ich auch mit einem Wellensittich zufrieden. Dem konnte man doch auch sprechen beibringen, oder?
    »Als ich so alt war wie du …«
    Wenn ich einen Wellensittich hätte, dürfte er dann frei im Haus herumfliegen? Vermutlich nicht. Er würde bloß überall weiße Häufchen hinterlassen, so dass es aussähe, als lägen die Schonbezüge über den guten Möbeln, und das wär’s dann. Außerdem war da ja auch noch Idabelle, die Hauskatze, die in ihrem Korb am Herd lag. Aber vielleicht durfte ich den Wellensittich ja wenigstens in meinem Zimmer fliegen lassen. Da könnte er auf dem Kopfende meines Betts sitzen und mir direkt ins Ohr zwitschern, das würde sich doch schön anhören …
    »Calpurnia!«
    Ich zuckte zusammen. »Ja, Mutter?«
    »Du hörst mir überhaupt nicht zu!«
    Ich starrte sie an. Wie konnte sie das wissen?
    »Ich möchte, dass du mir zuhörst. Es geht so nicht weiter. Deine Arbeitsweise ist unerträglich. Ich erwarte mehr von dir, und du wirst von jetzt an mehr leisten. Hast du mich verstanden? Es wundert mich, dass Miss Harbottle mir deswegen nicht geschrieben hat.«
    Hatte sie. Zweimal sogar.
    »Bis zur Ausstellung zeigst du mir jeden Abend deine Arbeit.«
    Das bedeutete, ich würde mir einige Wochen lang mehr Mühe geben müssen. Die dunkle Glocke der Hoffnungslosigkeit dröhnte laut in meinen Ohren. Ich war gebrandmarkt.
     
    Der Tag verging viel zu schnell, ich hatte gemein viele Hausaufgaben auf, und jetzt blieben mir nur noch wenige Stunden gutes Licht, um draußen zu arbeiten. So schnell ich konnte, flitzte ich zur Tür. Mutter saß im Salon und ging ihre Haushaltsbücher durch. »Calpurnia!«, rief sie. »Schon wieder zum Fluss?«
    Zu spät. »Ja, Mutter«, rief ich in meiner besten, fröhlichsten Brave-Tochter-Stimme.
    »Zeig mir erst dein Stickzeug.«
    »Was?«
    »Nicht in diesem Tonfall, mein Mädchen. Erst möchte ich dein Stickzeug sehen, dann können wir darüber reden, ob du noch zum Fluss gehst. Und wo ist überhaupt deine Haube? Du bekommst noch Sommersprossen!«
    Wie denn bitte schön? Es war ja schon so gut wie dunkel draußen. Ich stampfte die Treppen hinauf, und mir war zumute, als lastete das ganze Gewicht der Welt auf meinen Schultern.
    »Und stampf nicht so auf«, rief Mutter mir hinterher. »Schließlich trägst du nicht die ganze Welt auf deinen Schultern.«
    Ich erschrak so, dass ich mich zusammenriss und mein bestes Benehmen an den Tag legte. Es war einfach gruselig, wie Mutter meine Gedanken lesen konnte. Den restlichen Weg schlich ich nach oben, leise schloss ich die Tür hinter mir. Ich nahm mein Mustertuch aus dem Nähbeutel

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