Cambion Chronicles 1
ich.
Nach einer weiteren ungestümen Umarmung zog Dad sich in Richtung Aufzüge zurück.
Caleb kam mir auf halbem Weg entgegen, und ich gestattete ihm, mich wieder zu meinem Platz zu führen.
Während ich auf Neuigkeiten vom Arzt wartete, schossen mir immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf, wie bei einer kaputten Schallplatte. Was hatte Mom getan, das einen Herzinfarkt verursachte? Wo war der Typ, mit dem sie verabredet gewesen war? Warum hatte plötzlich alle Welt Herzprobleme, körperliche und emotionale?
Ich hob den Kopf und sah Caleb an. »Ich brauche eine ehrliche Antwort.«
Er wartete.
»Gibt es noch mehrere wie dich in Williamsburg? Ich meine, außer Nadine?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Ich ging die Cambion-Anwesenheitsliste durch und fragte: »Ist dein Bruder in der Gegend?«
»Nein. Soweit ich weiß, ist er noch an dem Abend, an dem er zu mir gekommen ist, nach Dublin zurückgeflogen.«
Zufriedengestellt, wenn auch nur ein wenig, verfiel ich wieder in stumpfe Teilnahmslosigkeit.
»Ich hab mich auch gewundert. Deine Mom ist ziemlich jung für einen Herzinfarkt. So was hatte sie doch noch nie, oder?«
»Nein. Vielleicht war da mal was in ihrer Familie, aber nichts, wovon ich wüsste.«
Er rieb mir den Rücken. »Ich glaube, sie wird wieder gesund. Der Arzt sagte, sie sei stabil.«
»Was wissen Ärzte schon?«
Seine Hände liebkosten meinen Nacken. »Eine Menge mehr als du im Moment, also entspann dich einfach, bis wir mehr erfahren.«
Mein Kopf schnellte hoch. »Du hast leicht reden. Ist ja nicht deine Mutter, die gerade um ihr Leben kämpft.« Die Worte hatten meinen Mund verlassen, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte.
Wenn er verletzt war, ließ er es sich nicht anmerken.
»Ich habe dasselbe durchgemacht wie du jetzt«, begann er mit sicherer, ruhiger Stimme. »Tausend Erinnerungen an sie blitzen im Kopf auf – Geburtstage, Ferien, kleine Dinge wie ihr Lachen, wie sie roch. Jedes aufgeschlagene Knie, jede Grippe, jeder Wackelzahn, den du unters Kopfkissen gelegt hast, alles zieht vor deinem inneren Auge vorbei. Schlimmer wird es, wenn das Bedauern und die Selbstzerfleischung dazukommen. Du spulst die letzte Unterhaltung in deinem Kopf noch mal ab. Alles, was du gerne noch gesagt oder getan hättest – ein paarmal öfter ›Hab dich lieb‹ hier oder da – , hätte den Verlust leichter machen können. Du denkst: ›Wenn ich artiger gewesen wäre, hätte ich ihr Kummer ersparen können.‹ Jeder Gedanke führt zu neuem Leid, einem so heftigen Schmerz, dass er körperlich spürbar ist und alles mit einschließt. Dann kommt der Punkt, an dem du gar nichts mehr fühlst. Du verlierst aus den Augen, ob du wirklich am Leben bist und ob du dich überhaupt darum scherst. Ich glaube, das umschreibt es ganz gut. Wenn irgendjemand weiß, was du gerade durchmachst, dann ich.«
Abschaum der Menschheit – so und noch viel schlimmer fühlte ich mich. Ich schrumpfte auf dem Stuhl zusammen und bedeckte meine Augen mit zitternden Händen. Ich konnte ihn nicht ansehen, ich hatte nicht das Recht dazu. »Es tut mir so leid, Caleb. Ich wollte nicht … «
Er zog sanft die Hände von meinem Gesicht, gab mir einen Kuss aufs Handgelenk und stand auf. »Ich gehe zum Automaten. Brauchst du was?«
»Nein.«
»Ganz sicher? Du musst was im Magen haben. Ich kann schnell in der Cafeteria vorbeigehen.«
»Nein danke. Ich würde es wahrscheinlich sowieso nicht drinbehalten.«
»Okay, ich bin gleich wieder da.« Er drückte meine Schulter und ging den Gang hinunter.
Ich ließ Calebs Worte auf mich wirken. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Erinnerungen, gute und schlechte, trieben in mir dahin, in einem Meer aus »was wäre wenn«, ohne Land in Sicht.
Die Stimme eines Mannes, der mit der Schwester am Empfang sprach, erreichte nur schwach mein Ohr. Als er den Namen meiner Mutter aussprach, sprang ich von meinem Stuhl auf. Ich ging auf den Tresen zu, beäugte ihn dabei von oben bis unten und versuchte herauszufinden, woher er Mom kannte.
Er verströmte Reife und Kultiviertheit, und sein lässiger, teurer Anzug war so weltmännisch wie er selbst. Mit seinen großen Händen fuhr er sich durch sein kurzes, grau meliertes Haar. Als ich den Empfang erreichte, sah er in meine Richtung. Sobald sein Blick auf mir ruhte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Tiefblaue Augen spähten hinter getönten Gläsern hervor und begutachteten mich ganz genau. Mit selbstsicherem Lächeln kam er auf mich zu.
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