Camel Club 01 - Die Wächter
Akten und Datenbanken der Vereinigten Staaten getilgt worden. Aufgrund strikter Anweisungen aus der CIA-Chefetage hatte Gray persönlich dafür gesorgt.
Obwohl John Carr gar nicht in dem Grab auf dem Friedhof Arlington beigesetzt war, galt er als tot. Der erste Liquidierungsversuch hatte lediglich seine Frau das Leben gekostet. Den zweiten Versuch stufte man als erfolgreich ein, wenngleich keine Leiche geborgen worden war; doch man ging davon aus, dass John Carr mitten im Ozean den Fischen als Futter gedient hatte. Gray fragte sich, ob er vorschnelle Rückschlüsse gezogen hatte: Der Mann, den er gesehen hatte, war ziemlich mager und anscheinend gebrechlich gewesen. Und das sollte der gewaltige John Carr gewesen sein? Sicher, die Jahre forderten von jedem Menschen ihren Tribut, aber von einem Mann wie John Carr stellte Gray sich unwillkürlich vor, dass das Alter an ihm abglitt. Aber der Mann hatte unzweifelhaft vor der Grabstätte gestanden, die John Carrs Namen aufwies. Und war er nicht plötzlich verschwunden, genau wie der legendäre John Carr es während seiner Laufbahn immer wieder praktiziert hatte?
Grays Puls wummerte, als er daran dachte, wie nahe er möglicherweise einem Mann gekommen war, der sein Vaterland verraten hatte. Und nicht irgendeinem Mann, sondern jemandem, der sich damals als perfekter Killer für die Regierung der Vereinigten Staaten betätigt hatte – bis er zu einem Risiko geworden war, wie oft bei solchen Außenseitern.
Carter Gray legte den Behälter ins Schließfach zurück und verließ die Stahlkammer alter Geheimnisse mit einem ungewohnten Gefühl in der Brust. Er verspürte Furcht vor einem Toten, der auf unerklärliche Weise vielleicht noch unter den Lebenden weilte.
Später zündete Carter Gray in seinem Schlafzimmer Kerzen an und betrachtete die Fotos auf dem Kaminsims. In wenigen Minuten war es Mitternacht, und dann holte der 11. September ihn abermals ein. Er nahm im Sessel neben dem Bett Platz und schlug die Bibel auf. Gray war katholisch getauft worden, war mit sieben Jahren brav zur Erstkommunion gegangen und sogar Messdiener gewesen. Als Erwachsener allerdings hatte er nie mehr den Fuß in eine Kirche gesetzt, außer aus opportunistischen politischen Erwägungen. In seinem Beruf, dem Geheimdienstgewerbe, hatte er Religion als nicht mehr sonderlich bedeutsam empfunden. Doch seine Frau war fromme Katholikin gewesen, und auch ihre Tochter Maggie war in diesem Glauben erzogen worden.
Seit er beide verloren hatte, griff Gray wieder regelmäßig zur Bibel. Er tat es nicht zum eigenen Seelenheil, sondern um für seine gleichsam im Krieg gefallene Familie das Banner hochzuhalten, obwohl er einräumen musste, dass die Worte der Heiligen Schrift ihm einen gewissen Trost spendeten. Heute las er laut ein paar Abschnitte aus den Korintherbriefen sowie aus dem Dritten Buch Mose; dann vertiefte er sich in die Psalmen. Lange nach Mitternacht kniete er sich vor die Fotos und betete, wenngleich seine Gebete stets eher zu einem Dialog mit seiner toten Familie gerieten. Während dieses Rituals stand er fast jedes Mal am Rande des Zusammenbruchs und der Tränen. Er fühlte sich zu Tränen berechtigt, und sie hatten in gewissem Umfang eine heilsame Wirkung. Doch als Gray sich wieder mit der Bibel in den Sessel setzte, kehrten seine Gedanken erneut zu dem mit einem leeren Zinksarg veranstalteten Scheinbegräbnis zurück. Ist John Carr tot, oder ist er am Leben?
Den Kassenbon mit Chastity Hayes’ Namen wohl verwahrt in der Tasche, fuhr Tom Hemingway nach Hause. Wie gewohnt bereitete er sich Tee zu und nippte an der Tasse, während er barfuß am Fenster stand und aufs Kapitol blickte. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich viel ereignet, und aus seiner Sicht durchaus nichts Positives.
Reinke und Peters, diese beiden Pfeifen, hatten zwei Aufträge verbockt, und nun war damit zu rechnen, dass Alex Ford und Kate Adams zu ihren jeweiligen Vorgesetzten liefen und eine gründliche Untersuchung forderten. Hinzu kam, dass Carter Gray über die »Auferstehung der Toten« schwafelte. Für Hemingways Begriffe war das eine hinlänglich deutliche Anspielung auf die vorgeblich von Gesinnungsgenossen getöteten Terroristen. Grays Gefasel hatte Hemingway zu der eiligen Kurierbotschaft an Captain Jack veranlasst.
Er wandte sich vom Fenster ab und richtete den Blick auf ein Porträtgemälde an der Wand. Das abgebildete Gesicht besaß große Ähnlichkeit mit dem seines Vaters, dem Diplomaten Franklin
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