Camel Club 03 - Die Spieler
nächsten Coup aus. Heute nahm sie den Zug, weil ihr Begleiter, der eins achtzig große Milton Farb, keinen Fuß in ein Vehikel setzte, das die Fähigkeit und Absicht hatte, vom Boden abzuheben.
»Ein Flugzeug ist das sicherste Reisemittel, Milton«, hatte Annabelle ihn aufgeklärt.
»Nicht, wenn es sich in einer Spirale abwärts schraubt. Dann beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man ins Gras beißt, satte hundert Prozent. Und diese Aussicht behagt mir überhaupt nicht.«
Mit Genies ließ sich nur schwer diskutieren, hatte Annabelle herausgefunden. Dessen ungeachtet hatte Milton, der Mann mit dem fotografischen Gedächtnis und dem blühenden Talent, Zeitgenossen auf geradezu brillante Weise anzulügen, hervorragende Arbeit geleistet. Nach einer erfolgreichen Aktion waren sie aus Boston abgereist. Ein bestimmter Gegenstand befand sich wieder da, wo er sein sollte, und niemand war auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen. In Annabelles Welt höchst riskanter Gaunereien war so etwas beinahe schon Perfektion.
Als der einzige Stromlinienzug der Amtrak auf dem verschlungenen Weg zur Ostküste dreißig Minuten später in einen Bahnhof rollte, blickte Annabelle aus dem Fenster und erschauderte unwillkürlich, als der Zugführer die Ankunft in Newark/New Jersey bekannt gab. Jersey war Jerry-Bagger-Land, doch zum Glück hielt der Acela nicht in Atlantic City, wo der brutale Kasinokönig seinen Stammsitz hatte. Andernfalls hätte Annabelle den Zug nicht genommen.
Außerdem hatte sie genug Verstand, um zu wissen, dass Jerry Bagger allen Grund hatte, Atlantic City zu verlassen und ihr nachzujagen, ganz gleich, wo sie steckte. Wenn man einen Verrückten wie Bagger um 40 Millionen Dollar beschiss, musste man damit rechnen, dass er keine Kosten und Mühen scheute, einen in die Hände zu bekommen, um ihm tausend Fetzen Fleisch gleichzeitig aus dem Leib zu reißen.
Annabelle sah Milton an, der mit seinem jungenhaften Gesicht und längeren Haaren einem Achtzehnjährigen glich. In Wirklichkeit ging der Mann auf die fünfzig zu. Er beschäftigte sich an seinem Notebook und stellte Berechnungen an, die weder Annabelle noch sonst jemand begreifen konnte, der unter dem geistigen Niveau eines Genies blieb.
Gelangweilt stand Annabelle auf, wechselte hinüber in den Bordimbiss und kaufte ein Bier sowie eine Tüte Chips. Als sie wieder gehen wollte, sah sie auf einem Tischchen eine herrenlose New York Times liegen. Sie setzte sich, trank das Bier und aß Chips, während sie gemächlich die Seiten durchblätterte und nach irgendeiner Information suchte, die der Auslöser zu ihrem nächsten Abenteuer sein könnte. Sobald sie in Washington eintraf, musste sie wichtige Entscheidungen treffen, darunter die, ob sie im Lande bleiben oder ins Ausland verschwinden sollte. Sie wusste genau, wie die Antwort lauten müsste. Derzeit wäre eine unbekannte Insel im Südpazifik der richtige Aufenthaltsort für sie; dort ließe sich der Tsunami namens Jerry Bagger in aller Ruhe aussitzen. Bagger war Mittsechziger, und da sie, Annabelle, eine solche Riesensumme bei ihm abgezockt hatte, war sein Blutdruck wahrscheinlich gewaltig in die Höhe geschnellt. Mit ein bisschen Glück gab er demnächst bei einem Herzinfarkt den Löffel ab, und dann wäre Annabelle wieder frei wie ein Vogel. Aber sie durfte nicht darauf bauen, dass es so kam: Bei jemandem wie Jerry musste man stets damit rechnen, dass einen das Glück verließ.
Die Entscheidung hätte ihr nicht schwerfallen dürfen, und doch hatte sie ihre Probleme damit. Annabelle war mit einem sonderbaren Grüppchen von Männern vertraut geworden – zumindest so vertraut, wie jemand ihres Schlages es sich erlaubte –, das sich Camel Club nannte. Beim Gedanken an dieses Quartett schmunzelte sie vor sich hin. Einer der Männer trug den Namen Caleb Shaw und arbeitete in der Kongressbibliothek. Caleb erinnerte sie stark an den feigen Löwen im Zauberer von Oz. Plötzlich aber schwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Oliver Stone, der Anführer dieses kleinen Klüngels von Außenseitern, war ein gänzlich anderes Kaliber. Er musste eine höllische Vergangenheit hinter sich haben, eine Lebensgeschichte, die sogar Annabelles Werdegang übertraf, der sehr bewegt und ungewöhnlich war, zumal für eine Sechsunddreißigjährige. Sie bezweifelte, dass sie je wieder einem Mann wie ihm begegnen würde.
Annabelle hob den Blick zu einem jungen Mann, der eben an ihr vorüberging und sich keine Mühe gab, seine Bewunderung
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