Camorrista
niemand mehr betreten. Es heißt, die naturwissenschaftliche Sammlung der Abtei soll in einem Jahr wieder geöffnet werden. Reja sieht sich einen alten Luftfeuchtigkeitsmesser an, ich bleibe vor einem anderthalb Meter hohen Schaukasten mit dem perfekt erhaltenen Skelett eines kleinen Dinosauriers stehen. Es ist einer von diesen zweibeinigen mit kurzen Vorderpfoten. Auf der angelaufenen Tafel steht, dass es sich um eine Rekonstruktion handelt, Geschenk eines argentinischen Museums.
Reja stößt geräuschvoll die Luft aus. Ich sollte keine weiteren Fragen stellen, tue es aber trotzdem.
»Kommt sein Anwalt auch mit?«
»Das weiß man im Augenblick nicht.«
»Wird er in der Zeit hier verhört?«
»Sicher. Doch wo und wann, erfahren wir erst im letzten Moment. Jetzt lass uns überlegen, wo wir ihn unterbringen: nicht im Erdgeschoss, kein Balkon, nur eine Tür und möglichst zwei leere Zimmer daneben. Geh du dir das bitte anschauen. Wenn im Zentrum irgendwelche Transen oder Rumänen sind, erkennen die schon an meinem Gesicht, dass ich ein Bulle bin.«
Am Gesicht vielleicht nicht. Am Gang und an der Art zu reden, das könnte allerdings sein. Er ruft mich zurück, als ich schon an der Tür bin.
»Fast vergessen: Hier ist Material, das du dir besser ansehen solltest.«
Von dem grün fluoreszierenden Stick baumelt ein schwarzes Bändchen.
»Hier sind die Daten seiner Komplizen drauf, Aktenvermerke, vertrauliche Quellen, die alles Mögliche über ihn erzählen. Wenn du dich wirklich amüsieren willst, gibt es auch die Geschichte dieser ganzen Scheiße, die in den letzten Wochen da unten passiert ist. Niederschriften, Berichte, Abhörprotokolle. Auch Fahndungsfotos von Leuten, die sich auf die Suche nach ihm machen könnten. Man weiß nie.«
Ich fummle schon wieder am Kragen meines T-Shirts herum, Reja hebt eine Augenbraue und fügt hinzu:
»Nur die Ruhe, ich habe gesagt: Man weiß nie. Dottor D’Intrò besteht darauf, dass man in solchen Situationen besser einen Gesamtüberblick hat.«
Ich fürchte, jetzt verstehe ich. Dieser Cocíss ist in Gefahr, weil er versprochen hat, über die Aprilfehde, wie die Zeitungen sie genannt haben, auszusagen. Mehr als zwanzig Tote in einem Monat, und letzte Woche ein Blutbad mitten im Zentrum. Sie haben einen Vorbestraften umgebracht und
dabei zwei Mädchen getötet, die nichts damit zu tun hatten. Acht Jahre alt, vielleicht neun, nicht mehr. Von Nunzia und Caterina haben alle eine ganze Woche geredet, es sind die einzigen Opfer, die für den Rest Italiens noch ein Gesicht und einen Namen haben. Jetzt habe ich das Gefühl, sie hier zwischen den Fingern zu halten. Alles, was von ihnen bleibt, Bröckchen elektronischer Asche in einer Urne aus grünem Plastik. Ich schließe meine Finger fest darum und stecke den USB-Stick in die Handtasche.
»Du darfst diese Dateien auf keinen Computer laden, auch nicht im Büro. Nicht ausdrucken, und wenn du den Stick mit dem Computer verbindest, kontrollier vorher, dass du nicht online bist, okay? Ach, er wird dich nach einem Passwort fragen. Es ist ›Cocíss‹.«
»Wie geschrieben?«
»Mit C und zwei S hinten.«
Er wiederholt ihn noch einmal, den Kampfnamen von Daniele Mastronero, und die beiden S am Ende kommen mir vor wie das Zischen eines Messers, mit dem man meuchlings zusticht.
Am Ende des Südflügels finde ich eine Unterkunft, die mir alle Anforderungen Rejas zu erfüllen scheint. Das Zimmer ist groß, geht auf einen kleinen Garten mit einem Mandelbaum und einer Bougainvillea hinaus. Padre Jacopo lehnt die Matratze ans Fensterbrett und lässt die Bettlaken wechseln. Er will, dass sie neu sind. Wegen der symbolischen Bedeutung, erklärt er mir (wo sich einer wie Cocíss wohl symbolische Bedeutungen hinsteckt?).
Weil das Waschbecken nicht abfließt, schraubt Padre Jacopo das Abflussrohr auf. Als ich ihm sage, dass der neue Gast nicht vor ein Uhr nachts eintreffen wird, hält er die Zange um die fest sitzende Mutter geschlossen und sieht mich an.
»Nachts wird hier geschlafen.«
»Ich kann da nichts machen.«
»Es scheint ein besonderer Fall zu sein.«
Ich gehe nicht darauf ein.
»Kommt er mit Bewachung?«
»Außer mir noch zwei Kollegen.«
Alles in allem gefällt mir dieser Mann, er hat große, ehrliche Hände und fettige Fransenhaare, ein bisschen siebziger Jahre. Er schraubt die Mutter mit den Fingern fertig ab, zieht das Rohr heraus, und die Schüssel füllt sich mit einem schwarzen Matsch aus Haarknäueln. Er wischt
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