Camp Concentration
Mordecai nicht unversehens Berrigans fatale Rolle übernehmen wird!
Später
Beachten Sie bitte: Ich lese ein Buch über Alchimie. Kaum hatte ich Haast verlassen, da ließ er mir das Buch schon überbringen. Aspects de l’alchimie traditionnelle von René Alleau. Beigelegt ist eine maschinengeschriebene Übersetzung in einem Umschlag mit der Aufschrift STRENG GEHEIM.
Erfreulicherweise ist es fast so unterhaltsam wie gewisse spleenige Leserbriefe, die meist mit den Worten beginnen:
»Sehr geehrter Herausgeber, Sie werden es wahrscheinlich nicht wagen, diesen Brief zu veröffentlichen, aber ...«
11. Juni
Die Faustus -Probe: eine Enttäuschung, ein Vergnügen und dann der entsetzliche Sturz in die Wirklichkeit.
Ich kann nicht genau sagen, was ich eigentlich von George Wagners Regie erwartet hatte. Vermutlich so etwas wie die sagenhaften Underground-Inszenierungen von Genet-Stücken, die es Ende der sechziger Jahre gegeben haben soll (was allerdings sehr zweifelhaft ist). Tatsächlich aber war Georges Regiekonzept nur ein schwacher Abklatsch des Arena-Theaters und der berühmten Verschwommenheit von Wieland Wagners Bayreuther Inszenierungen. Wenn das Publikum, wie in unserem Fall, nur aus den gerade nicht auf der Bühne benötigten Mitwirkenden besteht (und aus mir selbst als Souffleur, was sich als überflüssig erwies, da sie bereits bei dieser ersten Probe jede Zeile auswendig wußten), wirkt das Proszenium sowieso störend. Aber die Auffassung, daß dichter Nebel die Wirkung einer Tragödie erhöht, ist reiner Blödsinn und ausgesprochen altmodisch. In der Hölle ist’s dunstig, einverstanden, aber in Schottland muß es das nicht unbedingt sein.
Es scheint also (und das stelle ich mit Vergnügen fest), daß sich unsere jungen Genies auch einmal irren können. Dies ist allerdings das Urteil eines Theaterbesuchers, der zwanzig Jahre lang wahllos von Aufführung zu Aufführung gerast ist und meist enttäuscht wurde. Das Erstaunliche an diesem Faustus ist, daß George und die anderen Gefangenen noch nie ein Drama auf der Bühne gesehen haben. Dagegen kennen sie Dramenverfilmungen, und die Inszenierung ging nicht zuletzt deshalb schief, weil George des öfteren Filmtechniken nachzuahmen versuchte.
Aber genug der Krittelei! Sobald sie zu spielen begannen, vergaß ich den Nebel und empfand nur noch Bewunderung. Um mit Mordecai zu sprechen: »Die Schauspieler waren phänemonal!«
Ich habe es vor Jahren versäumt, mir Burton als Faustus anzusehen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er sehr viel besser ist als George Wagner war. Sicher hat Burtons Stimme im letzten Monolog nobler geklungen, aber gelang es ihm ebenso gut, den Zuschauern zu suggerieren, daß hier wirklich ein mittelalterlicher Gelehrter vor ihnen stand, von Gott besessen, Gott lästernd, von heroischer und verhängnisvoller Liebe zur Wissenschaft getrieben? Erschien die Wissenschaft ähnlich furchtbar, geheimnisvoll und alptraumartig, als Burton bei Fausts erstem Auftritt seufzte: »Du, süßer Wissensdrang, verzehrst mich ganz ...«? Als George diese Worte sprach, spürte ich mein Herz klopfen und jede Faser in mir nach dem Gift dürsten, das auch mich verzehren würde.
Mordecai spielte den Mephistopheles. Bei Marlowe ist diese Gestalt bei weitem nicht so eindrucksvoll wie bei Goethe, aber Mordecais Darstellung ließ das fast vergessen. Die Stelle, die mit den Worten beginnt: »Hier ist die Hölle, ich entkam ihr nicht«, sprach er mit kühler Eleganz, so, als wäre dieses Eingeständnis ewiger Verdammnis und Verzweiflung nicht mehr als ein triviales Epigramm von Sheridan oder Wilde.
Ich könnte noch vieles erwähnen - Nuancen der Interpretation und Deklamation -, aber meine Gedanken kehren immer wieder zu jenen letzten, qualvollen Minuten zurück, als Faustus, kurz bevor die Hölle sich seiner bemächtigt, plötzlich aufhörte, Faustus zu sein. Denn wieder einmal wurde George Wagner von einem erschreckend heftigen Brechreiz befallen und gab alles, aber auch alles, was er im Magen hatte, von sich. Er schluchzte und würgte, er wand sich wie in einem Anfall auf dem glatten Bühnenboden, bis die Wärter erschienen und ihn zurück in die Krankenstation trugen, während die Darsteller der Teufel mit leeren Händen in den Kulissen standen.
»Mordecai, was ist mit ihm los?« fragte ich. »Ist er immer noch krank? Was fehlt ihm?«
Und Mordecai, noch nicht aus seiner Rolle geschlüpft, sagte eisig: »Das ist der Preis, den alle guten Menschen
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