Camping-Daggys letzter Kunde ROTE LATERNE ROMAN Band Nr. 4 (German Edition)
die mütterliche Freundin trösten und ihr helfen wollte. »Du hast doch immer noch einmal neu beginnen wollen. Ganz groß und richtig schön! Vergiss es doch nicht, mein Herz. Was immer geschieht, meine Gedanken werden dich begleiten. Ich werde sogar für dich beten, mein Herz!«
»Du - du kannst beten?«, stammelte Yvonne fassungslos. Daggy nickte. Ihre grauen Augen schauten die Frau sehr ernst an. Etwas von verborgener Traurigkeit, von verwehtem Glück und einer nie gekannten Sehnsucht nach Liebe und Frieden lag dabei in diesen Augen.
»Ich muss es tun, Yvonne. Ich frage Gott immer wieder, warum er mich so gemacht hat. Vielleicht hat er mich in diese Welt geschickt, um so zu sein? Ich weiß nicht, ob ich ihm danken soll, oder ob ich ihn darum bitten muss, mich irgendwann einmal anders zu machen!«
Yvonne sah Daggy erstaunt an. So hatte sie die junge Dirne noch nie sprechen hören. Noch nie vorher war es ihr gelungen, einen so tiefen Einblick in den zerklüfteten Abgrund einer Seele zu gewinnen wie in diesen Augenblicken.
»Es ist gut, dass du in dieser Welt bist, Daggy«, murmelte Yvonne. »Wir sind alle nur Dirnen. Wir sind niedrig und gemein. Aber sind wir gefallene Engel?«, Die Frau schüttelte langsam den Kopf. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Wir tun doch unser Bestes, nicht wahr? Vielleicht gäbe es mehr Leid und Elend, wenn wir nicht so gemacht worden wären, um das alles ertragen zu können. Meine Kraft ist bald verbraucht. Und dann ...«
»Es ist spät, Yvonne«, flüsterte Daggy. Die trübe Funzel an der Wand begann merkwürdig zu flackern. Deutlich konnte man die Bretter erkennen, über die einfach eine billige Tapete geklebt worden war. Überdeutlich trat die schäbige Umgebung in diesem sonderbaren Licht hervor. »Gib mir noch einen letzten Drink, mein Herz. Wer weiß, was morgen sein wird. Vielleicht ist morgen alles vorbei. Von diesem Augenblick wird nur noch die Erinnerung bleiben. Auch wenn es längst keine Daggy, keine Yvonne und kein 'viole d'or' mehr geben wird!«
»Du wirst zu sentimental, Cherie!«, sagte Madame gefasst. Ihre Stimme klang wieder kräftig. Und da wusste Daggy, dass sie dieser Frau geholfen hatte, diesem im Grunde so armen Wesen, das sein wahres Gesicht hinter Plunder und Plüsch verbergen musste, und ihre Seele in eine raue Schale hüllte, damit die Welt nicht erkennen konnte, welch gütiger Mensch sich hinter allem versteckte.
*
Dagmar erwachte nach knapp zwei Stunden Schlaf. Eigenartigerweise fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Sie stand auf, ging hinunter zum Meer und badete. Der Strand war menschenleer. Leise rauschend rollten die schaumgekrönten Wellen in den Ufersand. Gleichmäßig, fast monoton und doch immer wieder anders und faszinierend.
Das Wasser war nicht kalt. Jede Woge massierte die Haut, ein leicht salziger Geschmack lag auf den Lippen, während Daggy weit hinausschwamm, gleichsam den hellen wärmenden Sonnenball vor sich hinschiebend. Mit kräftigen Stößen und geschlossenen Augen gab sich das Mädchen der Urkraft des Meeres hin, die in ihren Körper einzudringen und ihn zu stählen schien.
Später schwamm sie zurück, fühlte sich erfrischt und wie neugeboren. Yvonne war noch nicht auf, als sie das Haus betrat. Ein leises Grauen befiel sie, als sie den knarrenden Gang betrat. Dort drüben an der abgeblätterten Tür hatte Jeanne ihren Geliebten erschossen.
Denk nicht dran, Daggy, sagte sie sich. Dann marschierte sie ins Badezimmer. Frisch wie der Morgen selbst, trat sie später wieder heraus. Yvonne kam aus ihrem Zimmer.
Die Barbesitzerin war abgeschminkt und ohne Perücke. Diesen Anblick bot sie selten. Sie hatte graues, etwas strähniges Haar, das jedoch nicht ungepflegt wirkte. Es lag glatt um den Kopf und war im Nacken mit einigen Haarnadeln befestigt. Ihr Gesicht jedoch war fahl, gelblich und voller Falten. Die fast wimpernlosen Augen verliehen dem Antlitz etwas von einer nicht greifbaren Leblosigkeit.
In Yvonnes Gesicht zeigte sich für Sekunden der Ausdruck panischen Entsetzens. Vielleicht war es das Erschrecken über den Gedanken an die verlorene, unwiederkehrbare Jugend, die ihr als Daggy vor den Augen stand.
»Bonjour, Cherie«, rief Daggy fröhlich. »Ich bin fertig! Du kannst ins Badezimmer gehen. Wenn heute jemand anruft, dann sagst du, dass ich, heute keine Besuche empfangen möchte. Erzähle von mir aus, ich wäre nach Cannes gefahren!«
»Es - es tut mir leid, Daggy«, murmelte Yvonne. Sie trug einen blauen,
Weitere Kostenlose Bücher