Camus, Albert
lässt ein Europa erstarren, das von Gespenstern und Maschinen bevölkert ist. Zwischen zwei Blutbädern werden in der Tiefe der Keller Schafotte aufgebaut. Humanistische Folterer feiern dort schweigend ihren neuen Gottesdienst. Welcher Schrei könnte sie stören? Selbst die Dichter erklären angesichts des Mordes ihres Bruders, sie hätten saubere Hände. Die ganze Welt kehrt sich nun zerstreut von diesem Verbrechen ab; die Opfer sind in die schlimmste aller Missgunst gefallen: Sie langweilen. In früheren Zeiten erweckte das Blut des Mordes wenigstens ein heiliges Grauen; es heiligte dadurch den Preis des Lebens. Die wahre Verdammung dieser Epoche ist, im Gegenteil zu denken zu geben, sie sei nicht blutig genug. Das Blut ist nicht mehr sichtbar; es bespritzt nicht mehr genügend hoch das Gesicht unserer Pharisäer. Das ist der äußersteNihilismus: Der blinde, wütende Mord wird eine Oase, und der dumme Verbrecher erscheint erfrischend neben unseren höchst intelligenten Henkern.
Nachdem der europäische Geist geglaubt hatte, er könne mit der ganzen Menschheit gegen Gott kämpfen, entdeckt er somit, dass er, wenn er nicht sterben will, auch gegen die Menschen kämpfen muss. Die Revoltierenden, die, im Aufstand gegen den Tod, auf der Gattung eine wilde Unsterblichkeit aufbauen wollten, sind entsetzt über den Zwang, auch töten zu müssen. Weichen sie jedoch zurück, so müssen sie ihren eigenen Tod hinnehmen, rücken sie vor, dann denjenigen der andern. Die Revolte, von ihren Ursprüngen abgewendet und zynisch verkleidet, schwankt auf jeder Stufe zwischen dem Opfer oder dem Mord. Das Reich der Gnade ist besiegt, aber dasjenige der Gerechtigkeit fällt auch zusammen. Europa stirbt an dieser Enttäuschung. Seine Revolte sprach der menschlichen Unschuld das Wort, nun trotzt sie ihrer eigenen Schuld. Kaum stürzt sie auf die Totalität, erhält sie im Tausch die verzweifeltste Einsamkeit. Sie wollte in eine Gemeinschaft eintreten und hat keine andere Hoffnung, als im Lauf der Jahre die Einsamen, die zur Einheit unterwegs sind, einen nach dem andern zu sammeln.
Muss man also auf jede Revolte verzichten, sei es, dass man eine Gesellschaft, die sich überlebt, mit ihrer Ungerechtigkeit annimmt, sei es, dass man zynisch beschließt, gegen den Menschen dem wahnwitzigen Gang der Geschichte zu dienen. Wenn die Logik unserer Überlegung uns zu einem feigen Konformismus führen sollte, müsste man ihn letzten Endes annehmen, wie gewisse Familien manchmal unvermeidliche Unehre auf sich nehmen. Auch wenn sie alle Arten von Attentaten gegen den Menschen rechtfertigen sollte, selbst seine systematische Vernichtung, müsste man diesem Selbstmord beistimmen. Das Gerechtigkeitsgefühl käme hieram Schluss auf seine Rechnung: Eine Welt von Händlern und Polizisten würde verschwinden.
Doch leben wir noch in einer revoltierenden Welt? Ist die Revolte nicht vielmehr das Alibi neuer Tyrannei geworden? Kann sich das ‹Wir sind›, das in der Revolte enthalten ist, ohne Skandal oder Ausflucht mit dem Mord versöhnen? Als sie der Unterdrückung eine Grenze steckte, jenseits welcher die allen Menschen gemeinsame Würde beginnt, bestimmte die Revolte einen ersten Wert. Sie setzte an die erste Stelle eine durchsichtige Komplicenschaft der Menschen untereinander, ein gemeinsames Band, die Solidarität der Kette, die die Menschen einander ähnlich macht und verbündet. So ließ sie den mit einer absurden Welt ringenden Geist einen ersten Schritt vorwärts tun. Durch diesen Fortschritt machte sie das Problem, das sie nun dem Mord gegenüber lösen muss, noch beängstigender. Auf der Stufe des Absurden beschwört der Mord in der Tat nur logische Widersprüche herauf, auf der Stufe der Revolte eine innere Zerrissenheit. Denn es geht darum, zu entscheiden, ob es möglich ist, denjenigen, irgendjemanden, zu töten, dessen Ähnlichkeit mit uns wir eben festgestellt und dessen Identität wir bestätigt haben. Müssen wir die kaum überwundene Einsamkeit endgültig wiederfinden, indem wir den Akt, der von allem ausschließt, legitimieren? Den zur Einsamkeit zwingen, der eben erfahren hat, dass er nicht allein ist, ist das nicht das endgültige Verbrechen gegen den Menschen?
Die Logik antwortet, dass Mord und Revolte widerspruchsvoll sind. Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, von der er indes seine Rechtfertigung ableitete. Wenn
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