Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
Vom Netzwerk:
wird in den Klassen wie im Individuum nicht mehr den Arbeiter vom Schöpfer trennen können, ebenso wenig wie die künstlerische Schöpfung daran denkt, die Form und den Inhalt, die Geschichte und den Geist zu trennen. So wird sie allen die Würde zuerkennen, die die Revolte behauptet hat. Es wäre ungerecht und im Übrigen utopisch, wenn Shakespeare die Gesellschaft der Schuster leitete. Aber es wäre ebenso verhängnisvoll, wenn die Gesellschaft der Schuster danach strebte, ohne Shakespeare auszukommen. Shakespeare ohne Schuster dient als Alibi für die Tyrannei. Der Schuster ohne Shakespeare wird von der Tyrannei verschlungen, wenn er nicht dazu beiträgt, sie zu verbreiten. Jede Schöpfung verneint in sich die Welt des Herrn und des Sklaven. Die hassenswerte Gesellschaft von Tyrannen und Sklaven, in der wir uns überleben, wird ihren Tod und ihre Verwandlung erst auf der Ebene der Schöpfung finden.
    Doch weil die Schöpfung notwendig ist, muss sie noch nicht möglich sein. Eine in der Kunst schöpferische Epoche kennzeichnet sich durch die Ordnung eines Stils, angewandt auf die Unordnung einer Zeit. Sie formt und formuliert die Leidenschaften der Zeitgenossen. Es genügt also für einen Schöpfer nicht mehr, Madame de la Fayette zu wiederholen in einer Zeit, wo unsere gramvollen Prinzen die Muße zur Liebe nicht mehr haben. Heute, da die kollektiven Leidenschaftenüber die individuellen die Oberhand gewonnen haben, ist es immer möglich, die Raserei der Liebe durch die Kunst zu zähmen. Aber das unausweichliche Problem ist auch das, die kollektiven Leidenschaften und den geschichtlichen Kampf zu beherrschen. Der Gegenstand der Kunst hat sich, trotz des Bedauerns der Nachahmer, von der Psychologie bis zum Geschick des Menschen ausgedehnt. Wenn die Leidenschaft der Zeit die ganze Welt aufs Spiel setzt, will die Schöpfung das gesamte Schicksal beherrschen. Aber zugleich hält sie gegenüber der Totalität die Behauptung der Einheit aufrecht. Die Schöpfung wird freilich dann durch sich selbst zuerst in Gefahr gebracht und darauf durch den Geist der Totalität. Schaffen heißt heute in Gefahr schaffen.
    Um die kollektiven Leidenschaften zu beherrschen, muss man sie in der Tat leben und wenigstens relativ mitempfinden. Während er sie empfindet, wird der Künstler von ihnen verschlungen. Daraus folgt, dass unsere Zeit eine solche der Reportage eher als des Kunstwerks ist. Es fehlt ihr ein richtiger Gebrauch der Zeit. Die Ausübung dieser Leidenschaften bringt schließlich größere Todeschancen mit sich als zur Zeit der Liebe und des Ehrgeizes, denn die einzige Art, die kollektive Leidenschaft echt zu leben, besteht in der Bereitschaft, für sie und durch sie zu sterben. Die größte Echtheit enthält heute die größte Chance des Misserfolgs für die Kunst. Ist die Schöpfung während Krieg und Revolution unmöglich, werden wir keine Schöpfer haben, denn Krieg und Revolution sind unser Teil. Wie die Sturmwolke das Gewitter, birgt der Mythos von der unbegrenzten Produktion den Krieg in sich. Die Kriege verwüsten nun das Abendland und töten Péguy 110 . Kaum aus den Ruinen wiedererstanden, siehtdie bürgerliche Maschine die revolutionäre Maschine auf sich zukommen. Péguy hat nicht einmal Zeit, wieder zur Welt zu kommen; der drohende Krieg wird alle töten, die vielleicht Péguy hätten sein können. Wenn sich ein schöpferischer Klassizismus jedoch möglich erwiese, muss man zugeben, dass er, wenn auch nur durch einen einzigen Namen vertreten, das Werk einer Generation wäre. Die Aussichten des Fehlschlags können im Jahrhundert der Zerstörung nur durch die Aussicht auf die Zahl aufgewogen werden, d. h. durch die Chance, dass von zehn wirklichen Künstlern wenigstens einer überlebt, die ersten Worte seiner Brüder übernimmt und im Leben zugleich die Zeit der Leidenschaft und der Schöpfung finden kann. Der Künstler kann, ob er es will oder nicht, nicht mehr ein Einsamer sein, außer im melancholischen Triumph, den er allen seinesgleichen verdankt. Die revoltierte Kunst enthüllt auch am Schluss ein ‹Wir sind› und mit ihm den Weg einer wilden Demut.
    Inzwischen bedroht die erobernde Revolution in der Verwirrung ihres Nihilismus die, welche gegen sie die Einheit in der Totalität bewahren wollen. Ein Sinn der Geschichte von heute, und mehr noch von morgen, ist der Kampf zwischen den Künstlern und den neuen Eroberern, zwischen den Zeugen der schöpferischen und den Errichtern der nihilistischen Revolution.

Weitere Kostenlose Bücher