Camus, Albert
den der Künstler in die Wiedergabe der Wirklichkeit trägt, soll sie unsichtbar bleiben, damit die Forderung, die die Kunst entstehen lässt, in ihrer äußersten Spannung zum Ausdruck kommt. Der hohe Stil ist die unsichtbare, d. h. verkörperte Stilisierung. «In der Kunst», sagt Flaubert, «soll man die Übertreibung nicht fürchten.» Aber er fügt hinzu, die Übertreibung müsse «stetig und im Verhältnis zu sich selbst» sein. Wenn die Stilisierung übertrieben ist und sichtbar wird, ist das Werk reine Sehnsucht: Die Einheit, die sie zu gewinnen sucht, ist dem Konkreten fremd. Wenn die Realität dagegenim Rohzustand geliefert wird und die Stilisierung unbedeutend ist, wird das Konkrete ohne Einheit dargeboten. Die hohe Kunst, der Stil, das wahre Gesicht der Revolte liegt zwischen diesen beiden Ketzereien. 109
Schöpfung und Revolution
In der Kunst vollendet und verewigt sich die Revolte in der wahren Schöpfung, nicht in der Kritik oder dem Kommentar. Die Revolution wiederum kann sich nur in einer Gesellschaft behaupten, nicht im Terror oder der Tyrannei. Die beiden Fragen, die unsere Zeit einer Gesellschaft im Engpass inskünftig stellt: Ist die Schöpfung möglich?, ist die Revolution möglich?, sind nur ein und die gleiche und betreffen die Wiedergeburt einer Kultur.
Die Revolution und die Kunst des 20. Jahrhunderts sind demselben Nihilismus untertan und leben im gleichen Widerspruch. Sie leugnen, was sie jedoch gerade in ihrer Bewegung behaupten, und suchen beide einen unmöglichen Ausgang durch den Terror hindurch. Die zeitgenössische Revolution glaubt, eine neue Welt zu eröffnen, und ist doch nur der widerspruchsvolle Schluss der alten. Schließlich fallen die kapitalistische und die sozialistische Gesellschaft zusammen, insofern sie im Hinblick auf die gleiche Verheißung und durch das gleiche Mittel: die industrielle Produktion, knechten. Doch die eine gibt ihre Verheißung im Namen formaler Prinzipien, die zu verkörpern sie unfähig ist und die durchdie angewandten Mittel geleugnet werden. Die andere rechtfertigt ihre Prophezeiung im Namen der einzigen Wirklichkeit und verstümmelt am Ende die Wirklichkeit. Die Gesellschaft der Produktion produziert nur, sie erschafft nicht.
Da die moderne Kunst nihilistisch ist, ist sie zwischen Formalismus und Realismus eingekeilt. Der Realismus ist ebenso gutbürgerlich, dann jedoch düster, wie er sozialistisch ist, dann jedoch erbaulich. Der Formalismus gehört zu gleichen Teilen der Gesellschaft der Vergangenheit an, als grund- und zwecklose Abstraktion, wie derjenigen, die sich als im Besitz der Zukunft ausgibt, dann bestimmt er die Propaganda. Die durch die irrationale Verneinung zerstörte Sprache verliert sich in Verbalraserei; der determinierenden Ideologie unterworfen, erschöpft sie sich im Befehl. Zwischen den beiden steht die Kunst. Wenn der Rebell zu gleicher Zeit die Wut des Nichts und die Zustimmung zur Totalität zurückweisen muss, so muss der Künstler dem Rausch der Form und der totalitären Ästhetik der Wirklichkeit entrinnen. Die Welt von heute ist eins in der Tat, aber ihre Einheit ist die des Nihilismus. Die Kultur ist nur möglich, wenn durch den Verzicht auf den Nihilismus der formalen Prinzipien und auf den Nihilismus ohne Prinzipien die Welt den Weg einer schöpferischen Synthese findet. Desgleichen liegt in der Kunst die Zeit der ewigen Kommentare und der Reportage in den letzten Zügen, sie kündet nun die Zeit der Schöpfer an.
Doch dazu muss die Kunst und die Gesellschaft, die Schöpfung und die Revolution die Quelle der Revolte wiederfinden, wo Ablehnung und Zustimmung, Besonderes und Allgemeines, Individuum und Geschichte sich in der härtesten Spannung ausgleichen. Die Revolte ist nicht an sich ein Element der Kultur. Aber sie geht jeder Kultur voraus. In der Sackgasse, in der wir leben, erlaubt sie allein die Hoffnung auf die Zukunft, von der Nietzsche träumte: «Statt desRichters und des Unterdrückers der Schöpfer.» Ein Wort, das nicht die lächerliche Illusion eines von Künstlern geleiteten Gemeinwesens erlaubt. Es beleuchtet nur das Drama unserer Zeit, in der die Arbeit, weil ganz der Produktion unterstellt, aufhörte, schöpferisch zu sein. Die industrielle Gesellschaft wird nur dann den Weg zu einer Kultur bahnen, wenn sie dem Arbeiter seine Würde als Schöpfer zurückgibt, d. h. wenn sie sein Interesse und seine Gedanken ebenso auf die Arbeit wie auf ihr Produkt lenkt. Die nunmehr notwendige Zivilisation
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