Camus, Albert
rettet die gemeinsame Verbindung der Menschen. Die Freiheit in einer schweigenden Welt, die geknechtete und stumme Gerechtigkeit zerstört die Komplizität und kann schließlich nicht mehr die Gerechtigkeit sein. Die Revolution des 20. Jahrhunderts hat willkürlich, um maßloser Eroberungsziele willen, zwei untrennbare Begriffe getrennt. Die absolute Freiheit verhöhnt die Gerechtigkeit. Die absolute Gerechtigkeit leugnet die Freiheit. Um fruchtbar zu sein, müssen beide Begriffe sich gegenseitig begrenzen. Niemand hält sein Geschick für frei, wenn es nicht gleichzeitig gerecht ist, und nicht für gerecht, wenn es nicht frei ist. Die Freiheit lässt sich nicht denken ohne die Möglichkeit, unumwunden das Gerechte und das Ungerechte beurteilen zu können, das gesamte Sein zu fordern imNamen eines Seinsteilchens, das sich weigert zu sterben. Es gibt schließlich eine, wiewohl ganz andere, Gerechtigkeit, die Freiheit wiederherzustellen, den einzigen unvergänglichen Wert der Geschichte. Nur für die Freiheit sind die Menschen je willig gestorben: Sie glaubten dann, nicht völlig zu sterben.
Die gleiche Überlegung trifft für die Gewaltanwendung zu. Die vollständige Gewaltlosigkeit begründet auf negative Weise die Knechtschaft und ihre Gewalttätigkeit; die systematische Gewalt zerstört positiv die lebendige Gemeinschaft und das Sein, das wir von ihr empfangen. Um fruchtbar zu sein, müssen die beiden Begriffe eine Grenze finden. Absolut gesetzt, legitimiert die Geschichte die Gewalt, als ein relatives Wagnis ist sie ein Bruch der gemeinsamen Verbindung. Sie muss somit für den Rebellen den vorläufigen Charakter eines Einbruchs behalten und, wenn sie sich nicht vermeiden lässt, immer verbunden sein mit einer persönlichen Verantwortung, mit einem unmittelbaren Wagnis. Die Gewalt als System reiht sich in die Ordnung ein; in einem gewissen Sinn ist sie Ausdruck eines geistigen Komforts. Als Führerprinzip oder Vernunft der Geschichte, durch welches Gesetz auch immer begründet, herrscht sie über eine Welt der Sachen, nicht der Menschen. Wie der Rebell den Mord als die Grenze betrachtet, die er, wenn er danach die Hand ausstreckt, durch seinen Tod bestätigen muss, kann die Gewalt nur eine äußerste Grenze sein, die sich einer andern Gewalt entgegenstellt, im Fall des Aufstands zum Beispiel. Wenn das Übermaß der Ungerechtigkeit diesen nicht mehr vermeiden lässt, verweigert der Rebell im Voraus die Gewalt im Dienst einer Doktrin oder einer Staatsräson. Jede geschichtliche Krise z. B. endet mit öffentlichen Einrichtungen. Wenn wir auch keinen Einfluss auf die Krise selbst haben, die reines Wagnis ist, haben wir einen solchen auf die Einrichtungen, denn wirkönnen sie ja bestimmen, diejenigen aussuchen, für die wir kämpfen und mithin unsern Kampf in ihre Richtung lenken. Die echte Tat der Revolte wird nur für Einrichtungen zu den Waffen greifen, die die Gewalt einschränken, und nicht für die, welche sie gesetzlich verankern. Nur dann lohnt eine Revolution den Tod, wenn sie unverzüglich die Abschaffung der Todesstrafe versichert, und die Leiden des Gefängnisses, wenn sie im Voraus die Anwendung von Strafen ohne voraussehbares Ende verweigert. Wenn die Gewalt des Aufstands sich auf dem Weg zu diesen Einrichtungen entfaltet, indem sie sie so häufig wie möglich ankündigt, ist das für sie die einzige Art und Weise, wirklich nur vorübergehend zu sein. Ist das Ziel absolut, d. h. geschichtlich gesprochen: Glaubt man es gewiss, so kann man so weit gehen, alle andern zu opfern. Wenn es das nicht ist, kann man nur sich selbst opfern im Einsatz eines Kampfes für die gemeinsame Würde. Rechtfertigt das Ziel die Mittel? Das ist möglich. Doch wer wird das Ziel rechtfertigen? Auf diese Frage, die das geschichtliche Denken offenlässt, antwortet die Revolte: die Mittel.
Was bedeutet eine solche Haltung in der Politik? In erster Linie: Ist sie wirksam? Ohne Zögern muss man antworten, dass sie es heute allein ist. Es gibt zwei Arten von Wirksamkeit, die des Taifuns und die des Lebenssaftes. Der geschichtliche Absolutismus ist nicht wirksam, sondern Wirkung auslösend; er hat die Macht ergriffen und behalten. Einmal im Besitz der Macht, zerstört er die einzige schöpferische Wirklichkeit. Die unnachgiebige und begrenzte Tat, die aus der Revolte hervorgeht, hält diese Wirklichkeit aufrecht und versucht lediglich, sie mehr und mehr auszudehnen. Es ist nicht gesagt, dass diese Tat nicht siegen kann. Es steht fest,
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