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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Geschichte könnte als ein Ganzes nur den Augen eines außerhalb ihrer und der Welt stehenden Betrachters erscheinen. Im Grenzfall gibt es nur für Gott Geschichte. Es ist somit unmöglich, nach Plänen zu handeln, die die Totalität der Weltgeschichte umfassen. Jedes geschichtliche Unternehmen kann deshalb nur ein mehr oder weniger vernünftiges und begründetes Abenteuer sein. Zuerst jedoch ein Wagnis. Als solches kann es keine Maßlosigkeit, keinen unerbittlichen und absoluten Standpunkt rechtfertigen.
    Wenn die Revolte hingegen eine Philosophie begründen könnte, wäre es eine Philosophie der Grenzen, der berechneten Unwissenheit und des Wagnisses. Wer nicht alles wissen kann, kann nicht alles töten. Weit entfernt, aus der Geschichte etwas Absolutes zu machen, lehnt der Rebell sie ab und bestreitet sie im Namen einer Idee, die er von seiner eigenen Natur hat. Er weist sein Geschick zurück, und dieses ist zum großen Teil geschichtlich. Die Ungerechtigkeit, die Vergänglichkeit, der Tod offenbaren sich in der Geschichte. Wer sie verwirft, verwirft die Geschichte selbst. Gewiss leugnet der Rebell nicht die Geschichte, die ihn umgibt, in ihr versucht er vielmehr sich zu behaupten. Doch er steht vor ihr wie der Künstler vor der Wirklichkeit, er stößt sie zurück, ohne sich ihr zu entziehen. Keinen Augenblick macht er aus ihr etwas Absolutes. Wenn er auch durch äußere Umstände am Verbrechen der Geschichte beteiligt sein kann, kann er es somit doch nicht legitimieren. Das rationale Verbrechen istauf der Ebene der Revolte nicht nur unzulässig, sondern bedeutet auch den Tod der Revolte. Um diese Selbstverständlichkeit noch schlagender zu machen, richtet sich das rationale Verbrechen in erster Linie gegen die Revoltierenden, deren Aufstand gegen eine nunmehr vergöttlichte Geschichte Sturm läuft.
    Die dem sogenannten revolutionären Geist eigene Mystifikation nimmt heute die bürgerliche Mystifikation auf und verschärft sie. Unter dem Versprechen einer absoluten Gerechtigkeit führt sie die ewige Ungerechtigkeit ein, den grenzenlosen Kompromiss und die Unwürdigkeit. Die Revolte zielt jedoch nur auf das Relative ab und kann nur eine gewisse Würde im Verein mit einer relativen Gerechtigkeit versprechen. Sie setzt sich für eine Grenze ein, an der die Gemeinschaft der Menschen errichtet wird. Ihre Welt ist die des Relativen. Statt mit Hegel und Marx zu sagen, dass alles notwendig sei, wiederholt sie bloß, alles sei möglich, und an einer bestimmten Grenze verdiene auch das Mögliche ein Opfer. Zwischen Gott und der Geschichte, zwischen Yogi und dem Kommissar bahnt sie einen schwierigen Weg, auf dem die Widersprüche gelebt und überwunden werden können. Betrachten wir also die als Beispiele aufgestellten Antinomien.
    Eine revolutionäre Tat, die in einem Zusammenhang mit ihren Ursprüngen stehen will, müsste in einer aktiven Zustimmung zum Relativen aufgehen. Sie wäre dem menschlichen Geschick treu. Unnachgiebig in Bezug auf ihre Mittel, nähme sie die Annäherung hinsichtlich ihrer Ziele hin und ließe, damit die Annäherung sich immer besser definiere, dem Wort freien Lauf. So würde sie jenes gemeinsame Sein aufrechterhalten, das ihren Aufstand rechtfertigt. Sie bewahrte insbesondere dem Recht die beständige Möglichkeit, sich auszusprechen. Das bestimmt ein Verhalten gegenüberder Gerechtigkeit und der Freiheit. Es gibt in der Gesellschaft keine Gerechtigkeit ohne natürliches oder bürgerliches Recht, das sie begründet. Es gibt kein Recht ohne Ausdruck dieses Rechts. Wenn das Recht sich ungesäumt ausdrückt, besteht die Möglichkeit, dass früher oder später die Gerechtigkeit, die es begründet, in die Welt tritt. Das Recht zum Verstummen bringen, bis die Gerechtigkeit eingeführt ist, heißt, es für immer verstummen zu lassen, denn es wird keinen Anlass mehr zum Reden haben, wenn die Gerechtigkeit für immer herrscht. Von neuem vertraut man also die Gerechtigkeit denen an, die allein das Wort haben, den Mächtigen. Seit Jahrhunderten nennt man die Gerechtigkeit und das Sein, das die Mächtigen austeilen, den allergnädigsten Willen. Die Freiheit töten, um die Gerechtigkeit zur Herrschaft zu bringen, läuft darauf hinaus, den Begriff der Gnade ohne die göttliche Fürsprache zu rehabilitieren und durch eine schwindelerregende Reaktion den mystischen Leib in der niedrigsten Gestalt wiederherzustellen. Selbst wenn die Gerechtigkeit nicht verwirklicht ist, bewahrt die Freiheit die Protestgewalt und

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