Camus, Albert
Sinn mit dem Bösen abzufinden. Als Nichtchrist z. B. muss er bis ans Ende gehen. Das aber heißt, sich vollständig für die Geschichte und mit ihr für den Menschenmord entscheiden, wenn dieser Mord für die Geschichte nötig ist: Wer die Legitimierung des Mordes hinnimmt, verleugnet auch seine Ursprünge. Wenn der Rebell keine Wahl trifft, erwählt er das Schweigen und die Knechtschaft der andern. Wenn er in einem Anfall von Verzweiflung erklärt, sich gleichzeitig gegen Gott und die Geschichte zu entscheiden, ist er der Zeuge für die reine Freiheit, d. h. für nichts. In unserem geschichtlichen Moment, in der Unmöglichkeit, eine höhere Vernunft zu bejahen, die ihre Grenze nicht im Bösen fände, ist sein offensichtliches Dilemma das Schweigen oder der Mord. In beiden Fällen eine Abdankung.
Ebenso steht es mit der Gerechtigkeit und der Freiheit. Diese beiden Forderungen stehen schon am Beginn der Revoltebewegung, man findet sie auch als Antrieb der Revolution. Die Geschichte der Revolutionen zeigt indes, dass sie fast immer zusammenstoßen, als wären ihre gegenseitigenForderungen unvereinbar. Die absolute Freiheit ist das Recht des Stärkeren zu herrschen. Die absolute Gerechtigkeit schreitet über die Unterdrückung jedes Widerspruchs: Sie zerstört die Freiheit. 112 Die Revolution für die Gerechtigkeit durch die Freiheit treibt am Schluss die eine gegen die andere. So gibt es in jeder Revolution, ist einmal die bis dahin herrschende Kaste beseitigt, eine Etappe, wo sie selbst eine Revoltebewegung auslöst, die ihre Grenzen aufzeigt und ihre Aussichten auf Misserfolg ankündigt. Die Revolution nimmt sich anfangs vor, dem Geist der Revolte, der sie hervorgerufen, Genüge zu tun; sie zwingt sich dann dazu, ihn zu verneinen, um sich selbst desto besser zu bekräftigen. Es scheint einen unbezwinglichen Gegensatz zu geben zwischen der Bewegung der Revolte und den Errungenschaften der Revolution.
Aber diese Antinomien bestehen nur im Absoluten. Sie setzen eine Welt und ein Denken ohne Mittler voraus. Es gibt in der Tat keine Versöhnung zwischen einem von der Geschichte völlig getrennten Gott und einer aller Transzendenz ledigen Geschichte. Ihre Vertreter auf Erden sind tatsächlich der Yogi und der Kommissar. Doch der Unterschied zwischen diesen beiden Menschentypen ist nicht, wie man gesagt hat, der Unterschied zwischen der nichtigen Reinheit und der Wirksamkeit. Der Erstere entscheidet sich nur für die Unwirksamkeit der Enthaltung, der Letztere für die der Zerstörung. Weil beide den vermittelnden Wert verwerfen, den die Revolte hingegen offenbart, bieten sie uns, vom Wirklichengleicherweise entfernt, nur zwei Beispiele der Ohnmacht, die des Guten und die des Bösen.
Wenn in der Tat die Geschichte ignorieren gleichbedeutend ist mit der Leugnung der Wirklichkeit, heißt es auch, sich von der Wirklichkeit entfernen, wenn man die Geschichte als ein Ganzes ansieht, das sich selbst genügt? Die Revolution des 20. Jahrhunderts glaubt den Nihilismus zu vermeiden und der wahren Revolte treu zu sein, indem sie Gott durch die Geschichte ersetzt. Sie stärkt in Wirklichkeit den Ersteren und verrät die Letztere. Die Geschichte liefert durch ihre eigene Bewegung keinen einzigen Wert. Man muss also gemäß der unmittelbaren Wirksamkeit leben und schweigen oder lügen. Die systematische Gewalt oder aufgezwungene Lüge, die Berechnung oder ausgeklügelte Lüge werden zu unumgänglichen Regeln. Ein rein geschichtliches Denken ist also nihilistisch: Es nimmt das Böse ohne Einschränkung hin und steht damit im Gegensatz zur Revolte. Es kann lange zur Kompensierung die vollständige Vernünftigkeit der Geschichte versichern, diese geschichtliche Vernunft wird erst am Ende der Geschichte vollendet sein, einen vollständigen Sinn haben, Wert und absolute Vernunft geworden sein. Bis dahin muss man ohne Moralgesetz handeln, damit das endgültige Gesetz ans Licht kommt. Der Zynismus ist als politische Haltung nur in Funktion eines absolutistischen Denkens logisch, d. h. der absolute Nihilismus einerseits und der absolute Rationalismus anderseits. 113 Wasdie Folgen anlangt, gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden Haltungen. Sobald sie angenommen sind, ist die Erde eine Wüste.
In Wirklichkeit ist das rein geschichtliche Absolute nicht einmal vorstellbar. Das Denken von Jaspers z. B. unterstreicht, dass es dem Menschen unmöglich ist, die Totalität zu fassen, da er sich ja im Innern dieser Totalität befindet. Die
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