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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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führen kann. Ihr einziger, scheinbarer Sieg ist es, wenigstens über die Einsamkeit und die Verneinung zu triumphieren. Mitten in einer Welt, die sie ablehnen und die sie verwirft, versuchen sie wie alle edlen Herzen, eine Bruderschaft wiederherzustellen. Die Liebe zueinander, die ihr Glück ausmacht bis in die Verlassenheit des Straflagers, die sich ausdehnt auf die unermessliche Menge ihrer versklavten, schweigenden Brüder, ist das Maß ihrer Not und ihrer Hoffnung. Um dieser Liebe zu dienen, müssen sie zunächst töten; um die Herrschaft der Unschuld zu bekräftigen, eine gewisse Schuld auf sich nehmen. Dieser Widerspruch löst sich für sie erst in ihrem letzten Augenblick. Einsamkeit und Ritterorden, Trostlosigkeit und Hoffnung werden nur in der freiwilligen Hinnahme des Todes überwunden. Schon Jeliabow, der 1881 das Attentat gegen Alexander II. organisierte, verlangte nach seiner Verhaftung achtundvierzig Stunden vor demMord, zu gleicher Zeit wie der wirkliche Urheber des Attentats hingerichtet zu werden. «Nur die Feigheit der Regierung», sagt er in seinem Brief an die Behörden, «könnte es erklären, dass man nur einen Galgen statt zwei aufrichtet.» Man stellte fünf auf, einen davon für die Frau, die er liebte. Aber Jeliabow starb mit einem Lächeln, während Ryssakow, der beim Verhör schwach geworden war, aufs Schafott geschleift wurde, halb wahnsinnig vor Entsetzen.
    Denn es gab eine Art von Schuld, die Jeliabow nicht wollte und von der er wusste, dass sie ihm wie Ryssakow zufallen würde, wenn er allein blieb, nachdem er getötet hatte oder hatte töten lassen. Am Fuß des Galgens küsste Sofia Perowskaja den Mann, den sie liebt und seine beiden Freunde, aber sie wandte sich von Ryssakow ab, der einsam starb, verdammt von der neuen Religion. Für Jeliabow kam der Tod inmitten seiner Brüder seiner eigenen Rechtfertigung gleich. Wer tötet, ist nur schuldig, wenn er noch bereit ist zu leben oder wenn er, um zu leben, seine Brüder verrät. Sterben hebt dagegen die Schuld und das Verbrechen selbst auf. Charlotte Corday ruft dann Fouquier-Tinville zu: «O dies Scheusal, erhält mich für eine Mörderin!» Wir machen die herzzerreißende und flüchtige Entdeckung eines menschlichen Wertes, der zwischen Unschuld und Schuld liegt, zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen Geschichte und Ewigkeit. Im Augenblick dieser Entdeckung, und erst dann, kommt ein seltsamer Friede über diese Verzweifelten, der des endgültigen Sieges. In seiner Zelle sagt Polivanow, es wäre ihm ‹leicht und süß› gewesen zu sterben. Woinarowskij schreibt, er habe die Todesfurcht besiegt. «Ohne dass in meinem Gesicht ein einziger Muskel zuckt, ohne zu sprechen, werde ich aufs Schafott steigen. Und es wird nicht Gewalt sein, die ich mir selbst antue, es wird das ganz natürliche Ergebnis alles dessen sein, was ich durchgemacht habe.» Viel später schreibtauch der Leutnant Schmidt, bevor er erschossen wird: «Mein Tod wird alles vollenden, und von der Hinrichtung gekrönt wird meine Sache untadelig und vollkommen sein.» Und Kaliayew, der zum Tode Verurteilte, nachdem er vor Gericht wie ein Ankläger aufgetreten, erklärt fest: «Ich betrachte meinen Tod als höchsten Protest gegen eine Welt der Tränen und des Bluts:» Der gleiche Kaliayew schreibt noch: «Vom Augenblick an, als ich hinter den Gerichtsschranken stand, hatte ich keinen Moment mehr den Wunsch, auf irgendwelche Weise am Leben zu bleiben.» Sein Wunsch wurde erhört. Am 10. Mai um zwei Uhr morgens geht er der einzigen Rechtfertigung entgegen, die er anerkennt. Ganz in Schwarz, ohne Mantel, einen Filzhut auf dem Kopf, besteigt er das Schafott. Pater Florinskij, der ihm das Kruzifix hinhält, antwortet der Verurteilte, indem er sich von Christus abwendet: «Ich habe Ihnen schon gesagt dass ich mit dem Leben abgeschlossen und mich auf den Tod vorbereitet habe.»
    Ja, der alte Wert erhält hier, am Ende des Nihilismus, am Fuß des Galgens selbst neues Leben. Er ist das diesmal geschichtliche Spiegelbild des ‹Wir sind›, das wir am Ende einer Analyse des Geistes der Revolte gefunden haben. Er ist gleichzeitig Entbehrung und erleuchtete Gewissheit. Er erstrahlte mit tödlichem Glanz auf dem erschütterten Gesicht Dora Brilliants beim Gedanken an den, der zugleich für sich selbst und die unermüdliche Freundschaft starb; er trieb Sasonow dazu, sich im Straflager zu töten, als Protest und um ‹seinen Brüdern Respekt zu verschaffen›; er spricht alle, auch

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