Camus, Albert
der
Kampforganisation
der sozialrevolutionären Partei unter Asews und später Boris Sawinkows Leitung zusammengeschlossen, halten sich alle auf der Höhe dieses großen Wortes. Es sind Männer mit Ansprüchen. Die Letzten in der Geschichte der Revolte, weisen sie nichts von ihrem Geschick und ihrer Tragik zurück. Lebten sie auch im Terror und hatten «Vertrauen zu ihm» . (Pokotilow),so hörte ihre innere Zerrissenheit doch nie auf. Die Geschichte kennt wenig Beispiele von Fanatikern, die an Skrupeln gelitten haben bis zum Augenblick der Tat. An Zweifeln haben die Männer von 1905 niemals Mangel gehabt. Die größte Ehre, die wir ihnen erweisen können, ist die Feststellung der Tatsache, dass wir ihnen 1950 keine einzige Frage stellen können, die sie sich nicht schon gestellt hätten und auf die sie in ihrem Leben oder durch ihren Tod zum Teil die Anwort nicht schon gegeben hätten.
Sie sind indessen sehr schnell durch die Geschichte gegangen. Als Kaliayew beispielsweise 1903 beschließt, zusammen mit Sawonkow am Terrorismus teilzunehmen, ist er sechsundzwanzig Jahre alt. Zwei Jahre später wird der ‹Dichter›, wie man ihn nannte, gehängt. Das ist eine kurze Laufbahn. Doch demjenigen, der mit etwas Leidenschaft die Geschichte jener Zeit überschaut, zeigt Kaliayew in seinem schwindelerregenden Durchgang das bezeichnendste Antlitz des Terrorismus. Sasonow, Schweitzer, Pokotilow, Woinarowskij und die meisten andern sind so in der Geschichte Russlands und der Welt aufgetaucht, kurzlebige, doch unvergessliche Zeugen einer immer mehr zerrissenen Revolte.
Fast alle sind Atheisten! «Ich erinnere mich», schreibt Boris Woinarowskij, der starb, als er seine Bombe auf den Admiral Dubassow warf, «schon vor meinem Eintritt ins Gymnasium predigte ich den Atheismus einem meiner Jugendfreunde. Eine einzige Frage setzte mich in Verlegenheit. Aber von wo war das gekommen? Denn ich hatte nicht die geringste Vorstellung von der Ewigkeit.» Kaliayew dagegen glaubt an Gott. Wenige Augenblicke vor einem scheiternden Attentat sieht ihn Sawinkow auf der Straße vor einer Ikone stehen, die Bombe in der einen Hand, mit der andern sich bekreuzigend. Aber er weist die Religion von sich. Vor seiner Hinrichtung lehnt er in der Zelle ihren Beistand ab.
Die Heimlichkeit nötigt sie, einsam zu leben. Sie kennen höchstens in abstrakter Weise die unbezwingliche Lust des Tatmenschen, der mit einer weiten Menschengemeinschaft in Berührung kommt. Doch das Band, das sie vereint, ersetzt ihnen alle anderen Bindungen. «Ritterorden», ruft Sasonow aus und erläutert es so: «Unser Ritterorden war von einem solchen Geist durchdrungen, dass das Wort ‹Bruder› mit noch nicht genügender Klarheit das Wesen unserer gegenseitigen Beziehungen ausdrückt.» Aus dem Straflager schreibt der gleiche Sasonow seinen Freunden: «Was mich betrifft, ist die unentbehrliche Voraussetzung des Glücks, für immer das Bewusstsein meiner vollkommenen Solidarität mit euch zu bewahren.» Woinarowskij wiederum gesteht, einer geliebten Frau, die ihn bei sich behalten wollte, die folgenden Worte gesagt zu haben, die ihm selbst «ein bisschen komisch», aber für seinen Geisteszustand typisch erscheinen: «Ich würde dich verfluchen, wenn ich bei den Kameraden verspätet ankäme.»
Diese kleine Gruppe von Männern und Frauen, die, verloren in der russischen Masse, sich zusammenscharen, wählt den Beruf von Scharfrichtern, zu dem sie nichts vorbestimmte. Sie leben alle vom gleichen Paradox, vereinigen in sich die Achtung vor dem menschlichen Leben im Allgemeinen mit der Verachtung des eigenen, die bis zur Sehnsucht nach dem höchsten Opfer geht. Für Dora Brilliant zählten die Fragen des Programms nicht. Die terroristische Tat erhielt ihre Schönheit in erster Linie durch das Opfer, das der Terrorist ihr brachte. «Aber», so sagt Sawinkow, «der Terror lastete auf ihr wie ein Kreuz.» Kaliayew ist bereit, jederzeit sein Leben zu opfern. «Mehr noch, er wünscht sich dieses Opfer leidenschaftlich.» Während der Vorbereitungen des Attentats gegen Plehwe schlägt er vor, sich unter die Pferde zu werfen und mit dem Minister umzukommen. Auch beiWoinarowskij fällt die Neigung zum Opfer mit der Anziehung des Todes zusammen. Nach seiner Verhaftung schreibt er seinen Eltern: «Wie oft ist mir in meiner Jugend der Gedanke gekommen, mich zu töten.»
Zur gleichen Zeit rührten diese Scharfrichter, die so vollständig ihr Leben aufs Spiel setzten, nur mit peinlichem
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