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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Netschajew, frei am Tage, wo er, von einem General aufgefordert, seine Kameraden zu denunzieren, ihn mit einer Ohrfeige zu Boden wirft. Durch ihn stellen sich die Terroristen zu gleicher Zeit, da sie die Welt der Menschen bekräftigen, über diese Welt und legen zum letzten Mal in unserer Geschichte dar, dass die wahre Revolte wertschöpferisch ist.
    Dank ihrer bezeichnet das Jahr 1905 den Höhepunkt des revolutionären Aufschwungs. Dies Datum ist der Beginn des Niedergangs. Die Märtyrer bauen keine Kirche, sie sind ihr Mörtel oder ihr Alibi. Darauf folgen die Priester und die Bigotten. Die kommenden Revolutionäre verlangen nicht mehr den Austausch der Leben. Sie gehen die Todesgefahr willig ein, aber sie sind auch bereit, sich, sosehr es nur geht, für die Revolution und ihren Dienst aufzusparen. Sie nehmen also für sich selbst die totale Schuld auf sich. Die Bereitschaft zur Demütigung ist das wahre Kennzeichen der Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, die die Revolution und die Kirche der Menschen über sich selbst stellen. Kaliayew beweist im Gegenteil, dass die Revolution ein notwendiges Mittel, doch kein genügendes Ziel ist. Damit erhebt er den Menschen, statt ihn zu erniedrigen. Kaliayew und seine russischen oder deutschen Brüder stellen sich in der Geschichte unserer Welt tatsächlich Hegel entgegen 61 , denn die allgemeine Anerkennung aller durch alle war von ihm zuerst als notwendig, dann als unzureichend erkannt worden. Scheinen genügte ihm nicht. Wenn die ganze Welt ihn anerkannt hätte, wäre in Kaliayew noch ein Zweifel übriggeblieben: Er brauchte seine eigene Zustimmung, und die Gesamtheit der Billigungen hätte nicht genügt, jenen Zweifel zum Schweigen zu bringen, den in jedem echten Mann hundert begeisterte Beifallsrufe erwecken. Kaliayew zweifelte bis zum Schluss, und dieser Zweifel hinderte ihn nicht, zu handeln; darin ist er das reinste Abbild der Revolte. Wer zu sterben bereit ist, ein Leben mit einem andern zu bezahlen, der bejaht, was er auch immer verneinen mag, gleichzeitig einen Wert, der ihn als geschichtlichesIndividuum übersteigt. Kaliayew weiht sich der Geschichte bis zum Tod, im Augenblick des Sterbens stellt er sich über die Geschichte. In gewisser Weise stimmt es, dass er sich ihr vorzieht. Aber was zieht er vor, sich selbst, der ohne Zögern tötet, oder den Wert, den er verkörpert und zum Leben bringt? Die Antwort ist nicht zweifelhaft. Kaliayew und seine Brüder siegten über den Nihilismus.

    Der Schigalewismus

    Doch dieser Sieg ist nur kurz: Er fällt mit ihrem Tod zusammen. Der Nihilismus überlebt vorläufig seine Sieger. Innerhalb der sozialrevolutionären Partei geht der politische Zynismus weiter auf den Sieg zu. Der Chef, der Kaliayew in den Tod schickt, Azew, spielt doppeltes Spiel und denunziert die Revolutionäre der Ochrana, während er zu gleicher Zeit Minister und Großfürsten umbringen lässt. Die Provokation stellt das ‹Alles ist erlaubt› auf seinen Platz und identifiziert noch die Geschichte mit dem absoluten Wert. Dieser Nihilismus wird, nachdem er den individualistischen Sozialismus beeinflusst hat, den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus anstecken, der in den achtziger Jahren in Russland aufkommt. 62 Das vereinigte Erbe Netschajews und Marxens gebietet die totalitaristische Revolution des 20. Jahrhunderts. Als der individuelle Terrorismus die letzten Vertreter des göttlichen Rechts verjagte, bereitet sich gleichzeitig der staatliche Terrorismus darauf vor, dies Recht endgültig an der Wurzel der Gesellschaft zu vernichten. Die Technik der Machtergreifung zur Verwirklichung der letzten Ziele gewinntdie Oberhand über die beispielhafte Bejahung dieser Ziele.
    Lenin entleiht in der Tat von Tkatschew, einem Kameraden und geistigen Bruder Netschajews, eine Anschauung der Machtergreifung, die er ‹majestätisch› fand und selber so zusammenfasste: «Strenge Geheimhaltung, sorgfältigste Auswahl der Mitglieder, Ausbildung von berufsmäßigen Revolutionären.» Tkatschew, der im Wahnsinn starb, bildet den Übergang vom Nihilismus zum militärischen Sozialismus. Er strebte danach, einen russischen Jakobinismus zu gründen, aber er nahm von den Jakobinern nur die Technik der Tat, da ja auch er jedes Prinzip und jede Tugend leugnete. Feind der Kunst und der Moral, versöhnt er in der Taktik nur das Rationale und das Irrationale. Sein Ziel ist die Herstellung der Gleichheit durch die staatliche Machtergreifung. Geheimorganisation,

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