Camus, Albert

Konsequenzen folgen auf die Grundsätze. Der deutsche Kaiser, der König von Italien und derjenige von Spanien sind in Europa Opfer von Attentaten. Ebenfalls 1878 schafft Alexander II. mit der Ochrana die schärfste Waffe des staatlichen Terrorismus. Von nun an zeichnet sich das 19. Jahrhundert durch Morde aus, in Russland wie in Europa. 1879 neues Attentat auf den König von Spanien und fehlgeschlagenes Attentat auf den Zaren. 1881 Ermordung des Zaren durch die Terroristen des
Volkswillens.
Sofia Perowskaja, Jeliabow und ihre Freunde werden gehängt. 1883 Attentat auf den deutschen Kaiser, sein Urheber wird mit der Axt hingerichtet. 1887 Hinrichtung der Märtyrer von Chicago und Kongress der spanischen Anarchisten in Valencia, die folgende terroristische Warnung hinausgehen lassen: «Wenn die Gesellschaft nicht nachgibt, muss das Böse und das Laster untergehen, wenn wir auch alle gleichzeitig zugrunde gehen sollten.» Die neunziger Jahre bezeichnen in Frankreich den Höhepunkt dessen, was man die Propaganda der Tat nannte. Die Heldentaten Ravachols, Vaillants und Henrys sind das Vorspiel zur Ermordung vonCarnot. Allein im Jahre 1892 zählt man mehr als tausend Sprengstoff-Attentate in Europa, an die fünfhundert in Amerika. 1898 Ermordung der Kaiserin Elisabeth von Österreich. 1901 Ermordung McKinleys, des Präsidenten der USA. In Russland, wo die Attentate gegen die zweitrangigen Vertreter des Regimes nicht aufhörten, wird 1903 die ‹Kampforganisation› der sozialrevolutionären Partei gegründet, welche die außerordentlichsten Gestalten des russischen Terrorismus vereinigt. Die Ermordung Plehwes durch Sasonow und des Großfürsten Sergej durch Kaliayew im Jahre 1905 sind der Höhepunkt dieser dreißig Jahre eines blutigen Apostolats und beschließen für die revolutionäre Religion das Zeitalter der Märtyrer.
    Der Nihilismus, eng verbunden mit der Bewegung einer enttäuschten Religion, vollendet sich so im Terrorismus. Durch Bombe und Revolver, auch durch den Mut, mit dem sie zum Galgen schritten, versuchte diese Jugend in einer Welt der totalen Verneinung aus dem Widerspruch herauszukommen und die Werte zu erschaffen, die ihnen fehlten. Bis dahin starben die Menschen im Namen dessen, was sie wussten oder zu wissen glaubten. Nunmehr nimmt man die schwierigere Gewohnheit an, sich für etwas zu opfern, von dem man nichts weiß, außer das eine, dass man sterben muss, damit es sei. Diejenigen, die vorher sterben mussten, vertrauten sich Gott an gegen die Gerechtigkeit der Menschen. Wenn man jedoch die Erklärungen der Verurteilten aus jener Zeit liest, ist man erstaunt, zu sehen, dass sie sich ausnahmslos gegen ihre Richter der Gerechtigkeit anderer Menschen anvertrauen, die noch kommen werden. Diese künftigen Menschen bleiben mangels höchster Werte ihre letzte Zuflucht. Die Zukunft ist für Menschen ohne Gott das einzige Jenseits. Ohne Zweifel wollen die Terroristen zuerst zerstören, den Absolutismus unter dem Schock der Bomben insWanken bringen. Aber durch ihren Tod zumindest trachten sie danach, eine Gemeinschaft der Gerechtigkeit und der Liebe neu zu erschaffen und damit eine Sendung wiederaufzunehmen, die die Kirche verraten hat. Die Terroristen wollen im Grunde genommen eine Kirche gründen, aus welcher eines Tages der neue Gott hervorgehen wird. Aber ist das alles? Wenn ihre freiwillige Anerkennung der Schuld und des Todes nichts anderes hervorbrachte als das Versprechen eines künftigen Wertes, so erlaubt uns die Geschichte heute, wenigstens für den Augenblick, zu behaupten, dass sie umsonst gestorben sind und nie aufhörten, Nihilisten zu sein. Ein Wert, der später kommen wird, ist ein Widerspruch in sich selbst, denn er kann keine Tat erhellen noch ein Auswahlprinzip beibringen, solange er sich nicht verkörpert hat. Aber die Männer von 1905, zerrissen von Widersprüchen, gaben durch ihre Verneinung und ihren Tod einem fortan gebieterischen Wert Leben, den sie zur Welt brachten im Glauben, nur seine Heraufkunft anzukündigen. Sie stellten sichtbar über ihre Henker und sich selbst dieses höchste und schmerzliche Gut, das wir am Ursprung der Revolte gefunden haben. Halten wir wenigstens bei diesem Wert ein, um ihn zu prüfen, an dem Zeitpunkt, wo der Geist der Revolte zum letzten Mal in unserer Geschichte dem Geist des Mitleids begegnet.
    «Kann man von terroristischen Taten sprechen, ohne sich daran zu beteiligen?», ruft der Student Kaliayew aus. Seine Kameraden, seit 1903 in