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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Gewissen an dasjenige der andern. Das Attentat gegen den Großfürsten Sergej scheitert das erste Mal, weil Kaliayew mit Billigung aller Kameraden sich weigert, die Kinder, die sich im Wagen des Großfürsten befanden, zu töten. Von Rachel Louiee, einer anderen Terroristin, schreibt Sawinkow: «Sie glaubte an die terroristische Tat, sie betrachtete es als Ehre und Pflicht, daran teilzunehmen, aber das Blut verwirrte sie nicht weniger als Dora.» Der gleiche Sawinkow widersetzt sich einem Attentat gegen den Admiral Dubassow im Schnellzug Petersburg – Moskau: «Bei der geringsten Unvorsichtigkeit hätte die Explosion im Waggon erfolgen und Unbeteiligte töten können.» Später verteidigt Sawinkow sich «im Namen des terroristischen Gewissens» mit Entrüstung dagegen, an einem Attentat ein Kind von sechzehn Jahren haben teilnehmen zu lassen. Im Augenblick des Ausbruchs aus einem zaristischen Gefängnis beschließt er, auf die Offiziere, die sich seiner Flucht entgegenstellen könnten, zu schießen, doch lieber sich selbst zu töten, als seine Waffe gegen Soldaten zu richten. Desgleichen erklärt Woinarowskij, dieser Menschentöter, der gesteht, niemals gejagt zu haben, «da er diese Beschäftigung barbarisch fand»: «Wenn Dubassow von seiner Frau begleitet ist, werfe ich die Bombe nicht.»
    Eine derartige Selbstverleugnung, verbunden mit einer so tiefen Sorge um das Leben der andern, gestattet die Annahme, dass diese zartfühlenden Mörder das Schicksal der Revolte in seiner äußersten Widersprüchlichkeit durchlebt haben. Man kann vermuten, dass auch sie bei aller Anerkennung der Unvermeidlichkeitder Gewalt, zugaben, dass sie ungerechtfertigt ist. Notwendig und unentschuldbar, so erschien ihnen der Mord. Mittelmäßige Herzen können in der Auseinandersetzung mit diesem schrecklichen Problem sich beruhigen, indem sie eine der Alternativen vergessen. Sie begnügen sich damit, im Namen der formalen Prinzipien alle unmittelbare Gewalt unentschuldbar zu finden, und geben damit dieser unbestimmten Gewalt freien Lauf, die der Welt und der Geschichte angemessen ist. Oder sie trösten sich im Hinblick auf die Geschichte damit, dass die Gewalt notwendig ist, und häufen Mord auf Mord, bis sie aus der Geschichte nur eine einzige und langdauernde Schändung dessen gemacht haben, was sich im Menschen gegen die Ungerechtigkeit auflehnt. Das bestimmt die beiden Gesichter des zeitgenössischen Nihilismus, das bürgerliche und das revolutionäre.
    Aber die hochgespannten Herzen, um die es hier geht, vergaßen nichts. Unfähig zu rechtfertigen, was sie indes notwendig fanden, kamen sie auf den Gedanken, sich selbst zur Rechtfertigung hinzugeben und mit einem persönlichen Opfer die Frage zu beantworten, die sie sich stellten. Für sie fiel, wie für alle Rebellen vor ihnen, der Mord mit dem Selbstmord zusammen. Ein Leben wird mit einem anderen bezahlt, aus diesen beiden Sühneopfern erwächst die Verheißung eines Wertes. Kaliayew, Woinarowskij und die andern glauben an die Gleichwertigkeit der Leben. Sie stellen daher keine Idee über das menschliche Leben, obwohl sie für die Idee töten. Genaugenommen leben sie auf der Höhe der Idee. Sie rechtfertigen sie schließlich, indem sie sie bis in den Tod hinein verkörpern. Wir stehen noch vor einer wenn nicht religiösen, so doch metaphysischen Auffassung der Revolte. Andere werden später kommen, vom gleichen verzehrenden Glauben erfüllt, welche diese Methoden für sentimental halten und sich weigern werden, zuzugeben, dass einLeben gleich viel wert sei wie jedes andere. Sie werden dann über das menschliche Leben eine Idee stellen, die abstrakt ist, wenn sie sie auch Geschichte nennen, der sie, im Voraus unterworfen, durch reine Willkür die andern zu unterwerfen beschließen. Das Problem der Revolte wird nicht mehr arithmetisch, sondern durch Wahrscheinlichkeitsrechnung gelöst. Angesichts einer zukünftigen Verwirklichung der Idee kann das menschliche Leben alles oder nichts sein. Je größer der Glaube ist, den der Rechner in diese Verwirklichung setzt, umso weniger gilt das menschliche Leben. Im Grenzfall ist es gar nichts mehr wert.
    Diesen Grenzfall müssen wir jetzt untersuchen, d. h. das Zeitalter der philosophierenden Henker und des staatlichen Terrorismus. Unterdessen lehren uns aber die Rebellen von 1905, an der Grenze, wo sie sich aufhalten mitten im Krachen der Bomben, dass die Revolte, nicht ohne aufzuhören, Revolte zu sein, zu Tröstung und dogmatischem Komfort

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