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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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und Rohstoffe aus den besetzten Mittelmeerländern. Aus der kulturellen Utopie wurde ein wirtschaftliches Kalkül, das seine nüchternen Zwecke ideologisch verkleidete. Einige der eifrigen Mittelmeerideologen waren sogar persönlich involviert in die koloniale Enteignungspolitik in Algerien. Andere, wie der rechtskonservative Autor Louis Bertrand, favorisierten unverhohlen die «Latinisierung Afrikas», sprich seine Unterwerfung unter die französische Leitkultur.
    Diese Doppelnatur – zur Befreiungs- und zur Unterdrückungsideologie zu taugen – bleibt das schwierige Erbe der Mittelmeerutopie. Die Mittelmeerpolitik unter Napoleon  III . fiel zwiespältig aus, einerseits kriegerisch und imperial, andererseits an einer Kooperation der mediterranen Völker interessiert. Auch die Dritte Republik hob in Algerien die Unterdrückung der arabischen Bevölkerung nicht auf, die seit 1881 durch den «Eingeborenencode» ihrer elementarsten Rechte beraubt wurde; sie profitierte jedoch vom Geist des Austauschs unter den vielen Völkern und Sprachen in den besetzten Gebieten.
    Mit dem Sieg der Volksfront in Frankreich und in Spanien 1936 bekommt die mediterrane Utopie neuen Auftrieb. Im November  1935 , kurz nach der Eroberung Äthiopiens durch die italienischen Faschisten, veranstaltet die «Académie méditerranéenne» eine Mittelmeerkonferenz in Monaco unter dem Titel «Mediterranismus und Humanismus». Jean Ballard gibt in den
Cahiers du Sud
in den dreißiger und vierziger Jahren zahlreiche Sondernummern zu den Themen «Der Islam und der Westen» ( 1935 ), der «mediterrane Mensch» ( 1943 ), die «griechischen Mythen» ( 1939 ) oder das «ewige Griechenland» ( 1948 ) heraus. Auch Camus wird Essays beisteuern.
    In den dreißiger Jahren entwickelt sich der frankoalgerische Schriftsteller Gabriel Audisio zum wichtigsten Anwalt der Mittelmeeridee in Frankreich und in Algerien. Der im Jahr  1900 in Marseille geborene Sohn des späteren Theaterintendanten von Algier veröffentlicht in den Jahren 1935 und 1936 bei Gallimard zwei Bände mit Reisefeuilletons rund um das Mittelmeer,
Jeunesse de la Méditerranée
und
Sel de la mer
, die für Camus und seine Freunde Jules Roy, Jean Amrouche, Emmanuel Robles und Claude de Fréminville von großer Bedeutung sind.
    Audisio vertritt eine über das lateinische Erbe weit hinausreichende Auslegung der Mittelmeeridee. Er erinnert daran, dass neben den Römern an den Ufern des Mittelmeers auch Berber, Araber, Spanier, Vandalen, Türken, Juden, Phönizier, Libyer und viele andere Völker gelebt haben. Rom sei untergegangen, das Mittelmeer sei ewig und der Traum der ganzen Welt. Noch vor Camus erklärt Audisio die konföderale und multikulturelle mittelmeerische Existenz zum Zukunftsmodell für die gesamte abendländische Welt. Ihre Maximen sind bescheiden, wenn nicht asketisch: gut leben und gut sterben, die Achtung der inneren und äußeren Natur, die Beschränkung auf das Elementare, die Koexistenz mit dem anderen. In einer kleinen Skizze beschreibt Audisio die Deutschen, wie sie womöglich, wären sie nur bei den südfranzösischen Boulespielern in die Schule gegangen, die Welt niemals in den ZweitenWeltkrieg gestürzt hätten.
    «Ich bin sicher, dass die Deutschen hier mehr suchen als das angenehme Klima. Sie suchen das moralische Klima, vielleicht sogar das philosophische. Einer von ihnen, der die Bewohner von Toulon beim Boulespiel beobachtete, sagte mir, seine Landsleute hätten keine Probleme, wenn sie so sein könnten wie diese Leute. Er verstand die Einfachheit dieser Boulespieler, in der die ewigen und wirklichen Probleme unserer Existenz verborgen liegen: die Eroberung des alltäglichen Glücks und der friedliche Heroismus, das menschliche Maß nicht zu überschreiten. Gut leben und gut sterben.» [82]
    Diese idyllische Spielart der mediterranen Ideologie, der Camus wie Audisio, Grenier und all die anderen jungen frankoalgerischen Intellektuellen begeistert folgen, steht am Ende der dreißiger Jahre in einem unauflösbaren Widerspruch zur imperialen Mittelmeerpolitik ihres Landes, die sich seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise noch verschärft hat.
    So liegt von Anfang an ein Schatten auf dem «Sonnendenken» der mediterranen Intellektuellen. Die «pensée du midi», die Camus geprägt hat, entsteht im Umkreis privilegierter, durch die Bildungsanstalten der Dritten Republik erzogener Kolonistensöhne. Der großen Kluft, die sich zwischen ihrem sonnigen Mittelmeerdenken und

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