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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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der Wirklichkeit der französischen Kolonialherrschaft auftut, schenken die Mittelmeerphilosophen wenig Beachtung. Camus’ schwärmerische Mittelmeerrede im Kulturhaus von Algier geht darüber hinweg, dass sie in einem Land gehalten wird, in dem die arabische Bevölkerung keine Bürgerrechte hat und einer gesonderten Strafgesetzgebung unterliegt. Gabriel Audisio nimmt in seiner Rolle als Direktor der algerischen Tourismus- und Landwirtschaftsbüros sogar persönlich am kolonialen Ausbeutungsgeschehen teil. Viele Autoren, die der Mittelmeeridee anhängen, werden in den kommenden Jahren kollaborieren. Jules Roy, ein junger algerischer Autor, der mit Camus zur sogenannten mediterranen «algerischen Schule» gehört, wird sich mit seinem Essay «La France sauvée par Pétain», «Frankreich durch Pétain gerettet», dem Vichy-Regime andienen. Der südfranzösische Mittelmeersänger Jean Giono wird einer der zuverlässigsten Teilnehmer der intellektuellen Kollaboration werden und nach dem Krieg vom nationalen Schriftstellerkomitee als «Verräter» angeklagt.
    Keiner der Mittelmeerautoren, auch Camus nicht, wird sich jemals offen gegen die französische Eroberung Algeriens aussprechen. Einzig der Dichter Jean Amrouche, Sohn einer vollständig assimilierten und zum Katholizismus konvertierten Berberfamilie, wird sich in den fünfziger Jahren gegen die französische Besatzung seiner Heimat auflehnen. Seinem Beispiel folgt dann der junge frankoalgerische Autor Jean Sénac – mit Camus wird er sich in dieser Frage überwerfen.
    Das Sonnendenken hat sich kompromittiert und ist in Vergessenheit geraten. Neben den Großideologien des 20 . Jahrhunderts wirkte das Mittelmeerdenken zu regional, zu defensiv und auch zu vage, um im Wettkampf der Gesellschaftstheorien und Lebensmodelle eine führende Rolle zu spielen. Die Sprengkraft, die in ihm liegt, wird seither unterschätzt.
    Als Nicolas Sarkozy im Jahr  2007  – auch im Namen Albert Camus’ – für die Wiederbelebung einer Mittelmeerunion warb, die an den europäischen Traum der Kreuzfahrer im Nahen Osten und der Kolonisten im Maghreb anknüpfen sollte, erinnerte seine Rhetorik an die Floskeln von der «zivilisatorischen Mission» der Grande Nation. So verwundert es nicht, dass sein präsidialer Restaurationsversuch einer großfranzösischen Variante der Mittelmeeridee im krisengeplagten Europa wenig Anklang fand. Dennoch hat die Idee nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Denn das regionale und konföderale Mittelmeerdenken hat die nationalen und politischen Großideologien überlebt und ist vielleicht die einzige Gesellschaftsutopie des 20 . Jahrhunderts, die noch eine Zukunft hat.
    Exkurs 2 Camus’ Griechenlandidee aus Deutschland
    Camus’ gesamter mittelmeerischer Begriffshaushalt – die Mittelmeerkultur, das Sonnendenken, die «pensée du midi» – geht zurück auf seine Vorstellung vom alten Griechenland. Er fühle sich als Grieche, er habe ein griechisches Herz, sagt er oft. Was versteht er darunter?
    Camus’ Tagebuch der dreißiger Jahre nennt zwei deutsche Quellen, aus denen er seine Kenntnisse des Griechischen bezieht: Friedrich Nietzsche und den Nietzscheschüler Oswald Spengler. Gedanken und Zitate aus der Einleitung zu Spenglers
Untergang des Abendlands
füllen viele Seiten. Das 1917 mit dem ersten Band in Deutschland erschienene, sehr populäre und einflussreiche Buch ist für Camus eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Von Spengler übernimmt Camus nahezu unverändert einen ganzen Satz geschichtsphilosophischer Ideen: die Gegenwart Westeuropas mit der spätrömischen Untergangszeit zu vergleichen; «die Vertikaltendenz» des eroberungswütigen Westeuropäers dem maßvollen griechischen Geist entgegenzusetzen; die Kritik an den «weltstädtischen Gehirnmenschen», die, so Spengler, «aus der Dampfmaschine eine das Bild der Länder verändernde Großindustrie entwickelt haben». [83]
    Auf der welthistorischen Landkarte des Münchener Privatgelehrten kommt den Griechen, den angeblich naiven Lieblingen der deutschen Studienräte, der wichtigste Gegenpart zum untergehenden Abendland zu. Passend zu dieser Rolle, schneidert Spengler den Griechen ein sanftes Seelenkleid. Da für die abendländische Volksseele schon die «Vertikaltendenz», die Tatkraft und das kriegerische Gegeneinander reserviert sind, bleiben den Griechen in diesem Historienbild nur die Interesselosigkeit am Lauf der Welt, das friedfertige Nebeneinander, die

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