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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Wirklichkeitsschock irritiert die literarische Utopie von der algerischen Kolonie als einem mediterranen Garten der Kulturen. Obwohl Camus und Pia die Zustände in der Kabylei unerträglich erscheinen, denken sie nicht daran, im
Alger républicain
den Kolonialismus für das Elend verantwortlich zu machen oder gar die Unabhängigkeit Algeriens zu fordern. Eine solche Idee liegt jenseits ihres politischen Horizonts. Die Vorschläge des Reporters bleiben am unmittelbaren Problem orientiert – man müsse die Produktion der Trockenfeigen verbessern, den Unterdrückten Kredite und den Zugang zu französischen Bildungsanstalten gewähren. Für Camus ist die Kabylei ganz selbstverständlich ein Teil Frankreichs, und den Berbern wünscht er, sie sollten schnellstmöglich Franzosen werden: «Wenn man die Assimilation wirklich will, wenn man wirklich will, dass dieses ehrwürdige Volk französisch wird, darf man es nicht länger von den Franzosen trennen.» [98]
    Solche Worte waren Skandal genug. Das Blatt wird nach dem Ende der Volksfrontregierung von der Pressezensur scharf beobachtet. Die Presseoffiziere haben im Frühsommer  1939 allerdings andere Sorgen, als sich um einen algerischen Journalisten zu kümmern, der sich für hungernde Berber interessiert. Camus erlangt mit diesen Reportagen lokale Berühmtheit. Er hat als einer der ersten französischen Journalisten offen über den Preis berichtet, den die Kolonisierten für ihre Kolonisation zahlen. In sein letztes Buch, das er zwanzig Jahre später herausgeben wird – die
Algerische Chronik
(
Actuelles  III
) –, wird er sieben der elf Texte aufnehmen.

Das Lob der Armut
    Armut und Elend liegen in der Begriffslandschaft Camus’ ein Zeitalter voneinander entfernt. Das kolonialistisch erzeugte Elend der Berber hat ihn entsetzt. Die anspruchslose, aufs Nötigste beschränkte Armutskultur der ursprünglichen algerischen Gesellschaft bleibt für ihn jedoch das Urmodell des guten Lebens:
    «Was kann ein Mensch sich Besseres wünschen als Armut? Ich habe nicht Elend gesagt und rede auch nicht von der hoffnungslosen Arbeit des modernen Proletariers. Aber ich sehe nicht, was man sich mehr wünschen kann als mit tätiger Muße verbundene Armut.» [99]
    Das Vorbild solch glückhafter Armut sind die Lebensverhältnisse seiner Kindheit in der Rue de Lyon. Er hat sie nie als Mangel empfunden, sie lagen so weit abseits von der zivilisierten Welt, dass seine Familie, mit einem auf die algerischen Ureinwohner gemünzten Wort des Soziologen und Algerienforschers Pierre Bourdieu, «nur im Hinblick auf einen Reichtum arm war, den sie von außen nicht erkannte und auch von innen nicht entdeckte». [100] Der hartnäckige und manchmal auch verzweifelte Armutsstolz der im Windschatten der Geschichte lebenden Algerier ist die Lebensstimmung, in der sich Camus’ Existenzialismus entfaltet. Seine
Carnets
eröffneten das Jahr  1935 mit dem Satz: «Was ich sagen will: Dass man – ohne jede falsche Romantik – Sehnsucht nach einer verlorenen Armut haben kann.» [101]
    Von der verlorenen Armut seiner Kindheit erzählen die ersten Texte, die er im Fleischerhaushalt seines Onkels schreibt. Die Mutter, die Großmutter und der stumme Onkel, der auf dem Fußboden schläft, werden, kaum hat er sie verlassen, zu den Helden seiner ersten algerischen Armutserzählung
L’Envers et l’Endroit
(
Zwischen Licht und Schatten
), in der er die Entbehrungen, denen er entkommen ist, bereits verklärt: Armut wird zu wahrem Reichtum, Schweigen zur idealen Form des Gesprächs, Gleichgültigkeit zu Einverständnis mit dem Schicksal. Sogar der Anblick des Himmels ist nur für den Armen – Camus bemüht den biblischen Begriff häufig – «eine köstliche Gnade».
    Als stolzer Abkömmling einer archaischen Armutskultur unterscheidet Camus ursprüngliche Werte, die wie ein Stein oder eine Blume einfach da sind, und künstliche Werte, die sich nur ableiten lassen aus den wankelmütigen Kategorien, Kursen und Tabellen der Zivilisation. Bei seiner Mutter hatten die Dinge einfache Namen, Topf, Teller, Vase. Bei seinem Onkel Acault wurde plötzlich nicht mehr von Tellern gegessen, sondern das Service aus Quimper aufgelegt oder das geflammte Steingut aus den Vogesen. Seitdem Camus diesen Vorboten der europäischen Zivilisation zum ersten Mal begegnet war, wuchs in ihm die Überzeugung, einmal an dem einzig richtigen Ort gewesen zu sein, an dem das Leben sich wie schlichte Töpferware formt, und diese wahren

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