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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Welt verraten. Ihre Appelle klingen verzweifelt, auch verzweifelt allgemein. Ihr journalistisches und politisches Bekenntnis mündet in einen melancholischen Individualanarchismus:
    «Heute, wo alle Parteien uns verraten haben, wo die Politik alles erniedrigt, bleibt dem Menschen nur das Bewusstsein seiner Einsamkeit und sein Glaube an den Wert des einzelnen Menschen. Man kann von keinem Menschen verlangen, inmitten des universalen Irrsinns gerecht zu bleiben. Viele von denen, die uns nahestanden und die wir geliebt haben, haben ihre Klarsicht verloren. Aber man kann zumindest niemanden zwingen, ungerecht zu sein. Im vollen Bewusstsein dessen, was wir tun, lehnen wir uns gegen das Unrecht auf, solange wir können, und verteidigen den Einzelnen gegen die Partisanen eines anonymen Hasses.» [106]
    Tag für Tag verhallen die libertären, pazifistischen Mahnungen und Meinungen aus der Rue Koechlin mehr oder weniger ungehört. Die Regierung von Ministerpräsident Édouard Daladier hat am 3 . September 1939 die Kriegserklärung gegen Deutschland unterzeichnet. Der Bürgermeister von Algier, Augustin Rozis, sympathisiert offen mit dem spanischen und italienischen Faschismus. Selbst Jean-Pierre Faure, der Herausgeber und Gründer ihres Blattes, wendet sich von Pia und Camus ab. Sie hätten, so wirft er ihnen vor, aus der Volksfrontzeitung ein Anarchistenblatt gemacht.
    All die zensierten Ausgaben und Artikel schienen verloren zu sein, wurden jedoch 2012 in den Übersee-Archiven in Aix-en-Provence wiederentdeckt. [107] Neben dem politischen «Glaubensbekenntnis» der beiden Redakteure vom November  1939 kennt man nun auch eine Stellungnahme zur Pressefreiheit, die Camus am 25 . November 1939 nicht veröffentlichen durfte. Der Artikel ergänzt eine fünfteilige Serie von Pascal Pia über die Ethik des Journalismus und das Handwerk der Nachrichtenverarbeitung. Camus verteidigt darin einen freien und undogmatischen Journalismus, dessen Maximen der Klarheit, Ironie, Verweigerung und Hartnäckigkeit auch im Kriegsfall nicht geopfert werden dürften. «Eine unabhängige Zeitung», so Camus, «nennt ihre Informationsquellen, ermöglicht es ihren Lesern, die Nachrichten einzuordnen, verhindert jede Manipulation des Geistes, variiert zwischen Nachricht und Kommentar und dient der Wahrheit, so gut es in ihren Kräften steht.» Und den Blick auf seine Zensoren gerichtet, fährt er fort: «Ein freier Journalist im Jahr  1939 macht sich nicht viele Illusionen über die, die ihn unterdrücken. Er ist, was den Menschen betrifft, Pessimist.»
    In diesen Wochen dürfte eine Saite gerissen sein im Herzen der beiden Idealisten. Ihre Hoffnungen, die Geschichte könnte aus dem Grauen des Ersten Weltkrieges gelernt haben, die Millionen Opfer könnten nicht vergebens gewesen und ihre Väter nicht umsonst gestorben sein, haben getrogen. Es gibt keinen Fortschritt. Das Grauen kehrt zurück. Die Geschichte dreht sich im Kreis. Die Signalworte, die seit dem Kriegsausbruch in Camus’ Kommentaren wie dumpfe Kanoneneinschläge aufeinander folgen, lauten: Verzweiflung, Zusammenbruch, Indifferenz, Fatalismus. Manche Artikel unterschreibt er mit Jean Meursault – ein Name, mit dem sich für ihn ein fatalistisches Heldentum verbindet.
    Pia und Camus halten daran fest, dass dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre und jederzeit beendet werden könnte. Camus beklagt, dass die Härten des Versailler Vertrags Hitlers Aufstieg begünstigt hätten und es in der Zwischenkriegszeit keine Anstrengungen für eine tragfähige europäische Neuordnung gegeben habe. Doch die beiden Redakteure stehen auf verlorenem Posten, und sie wissen es.
    Im Dezember  1939 veröffentlicht Camus noch einige kürzere Kommentare in seiner Rubrik «Schlaglichter des Krieges», in denen er unter anderem die Sowjetunion einen «imperialistischen Staat» nennt. In einem «Brief an einen jungen Engländer», der am 23 . Dezember in dieser Rubrik, verstümmelt durch die Zensur, erscheint, kämpft er dafür, dass man dem Siegeswillen im Krieg nicht alle anderen Werte opfern dürfe. Camus, der schon bewiesen hat, wie glänzend er die modernen Stilmittel eines ironischen und angelsächsisch geprägten Journalismus beherrscht, passt sich nun immer mehr der pompösen Schicksalsrhetorik der Hauptstadtpresse an. Frankreich steht kurz vor dem Angriff der Deutschen.
    In einem seiner letzten Artikel vom Januar  1940 verabschiedet sich der Chefredakteur des
Soir républicain
von seinen Lesern mit

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