Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
publiziert und plane, bei der neugegründeten Literaturzeitung
Rivages
mitzuarbeiten.
Pia stellt Camus sofort ein. Nach dem ersten Treffen mit dem in Scheidung von seiner drogensüchtigen Ehefrau Simone lebenden jungen Mann lobt er dessen gute Allgemeinbildung und die «für sein Alter erstaunliche Lebenserfahrung». Er bietet Camus 2000 Franc im Monat. Sein Berichtsgebiet: Lokales und Literatur. Dienstzeiten täglich von 17 Uhr bis 1 Uhr nachts. Die erste Ausgabe erscheint am 6 . Oktober 1938 , hat acht Seiten und kostet 40 Centimes.
Camus, der keine journalistische Erfahrung mitbringt, beginnt sofort, Gerichtsreportagen und Literaturrezensionen zu schreiben. In den 387 Ausgaben des
Alger républicain
wird er mehr als 150 Artikel veröffentlichen, über Lokales, Budgetfragen, Senatswahlen, Lebenshaltungskosten, die Arbeit der Landwirtschaftskammer oder die Lokalpolitik des nationalkonservativen Bürgermeisters Augustin Rozis. In seiner Literaturkolumne rezensiert er Jean-Paul Sartres Debüt
Der Ekel
und die neuen Romane von Aldous Huxley, Erich Maria Remarque, Paul Nizan, Jean Giono, Ignazio Silone. Sein Ton ist spielerisch, offensiv, selbstbewusst. So gut wie jetzt wird er als Pariser Journalist beim
Combat
nie wieder schreiben.
Der
Alger républicain
pflegt unter Pascal Pia einen kommentierenden, häufig beißend ironischen Journalismus. Camus experimentiert mit unkonventionellen Formaten wie einem «Offenen Brief an den Generalgouverneur» oder einem erdachten Gespräch zwischen einem «Arbeiter mit 1200 Franc im Monat» und dem Senatspräsidenten. Als Gerichtsreporter nimmt er Einfluss auf spektakuläre Prozesse wie den gegen Michel Hodent, den Angestellten eines dem staatlichen Getreideamt unterstellten Betriebes, der zu Unrecht wegen Unterschlagung angeklagt ist und seinen Freispruch nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz dieses engagierten Gerichtsreporters vom
Alger républicain
verdankt. Ebenso rückhaltlos unterstützt Camus Scheich El Okbi, der beschuldigt wird, den Mord am Großmufti von Algier befohlen zu haben. Der Scheich wird freigesprochen, ob zu Recht oder zu Unrecht ist bis heute nicht entschieden; wegen der liberalen Haltung des Angeklagten und der Regierungstreue des Opfers hat sich Camus vielleicht allzu schnell auf eine Seite geschlagen.
Zu großer Form lief er schließlich in einem besonders grausamen Fall kolonialistischer Unrechtsgerichtsbarkeit auf. In dem Prozess wurden arme arabische Landarbeiter, die angeblich während eines Streiks Gebäude in Brand gesetzt hatten, zu mehreren Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Camus beschrieb, welchen Foltermethoden der kolonialen Ordnungsmacht sich die Geständnisse der Landarbeiter verdankten: Auspeitschung am ganzen Körper, Untertauchen des Kopfes fast bis zum Ersticken in einem Wasserbecken, elektrische Stromschläge auf die nackten Fußsohlen. Anschließend habe man die Daumen dieser Analphabeten mit Gewalt auf ein Stempelkissen und zum Zeichen ihres Einverständnisses auf die Prozessunterlagen gedrückt. «Diese abscheulichen Methoden, die einem jeden von uns wie ein persönlich erlittenes Unrecht unerträglich sind, bringen die Unglücklichen ins Zuchthaus, deren Leben ohnehin nur eine Folge von Elend war.» [93]
Doch damit nicht genug, in einer mehrteiligen Serie schilderte Camus im Detail, was die Verurteilung der Landarbeiter für ihre Angehörigen bedeutete. Eine Familie sei nun darauf angewiesen, vom Tagelohn des zehnjährigen Sohnes zu leben. Die Frau eines anderen Verurteilten müsse für ihre fünf Kinder betteln gehen. Mutter und Bruder eines Dritten könnten die vier Kinder und die Ehefrau nur dadurch durchbringen, dass sie Holz und Kräuter sammelten. Camus nennt den Lohn der Kinder und der Frauen: 3 Franc, 6 Franc, 8 Franc am Tag.
Am meisten erstaunt, wie mühelos der Anfänger sofort die verschiedensten journalistischen Rollen beherrscht – den jungen Engagierten, den gravitätischen Besserwisser, den bissigen Beobachter, den sensiblen Reporter, den naiven Mann von der Straße. Er lässt auch den moralischen Belcanto hören, der ihn später in Paris kennzeichnen wird, und gelegentlich erlaubt er sich eine zeitungsferne Empfindsamkeit.
«Wir wissen, dass zuweilen der Mensch hinter den Mächtigen dieser Welt zum Vorschein kommt. Es gibt auch für den Mächtigen Augenblicke, zwischen zwei Empfängen und drei Verlautbarungen, in denen er ein Stückchen Himmel betrachtet, das über den allzu gestutzten
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