Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
großem Pathos:
«Es ist dies die Nacht der Menschlichkeit, in der ein Mensch, in seinem einsamen Schicksalskampf in die schweigende Welt ruft, dass man nicht schlafen, sondern bis zum Ende der Zeiten wachen müsse. Dieses Ende ist nah. Die Zeiten waren für das einzelne Individuum nie härter und bitterer als heute. Aber die einzigartige Größe des Menschen ist es zu bekämpfen, was mächtiger ist als er selber. Nicht das Glück soll man sich heute wünschen, sondern diese verzweifelte Erhabenheit». [108]
Ein starker Schlusssatz, den er unter eine glückliche Jugend in Algerien setzt. Das Glück, das er zum obersten Maßstab der Existenz erklärt hat, ist nichts mehr wert. Übrig bleibt nur eine durch was auch immer geadelte Verzweiflung – die gute Figur, die derjenige abgibt, der gerade ins Bodenlose fällt. Seit einer Weile arbeitet Camus nach Redaktionsschluss an seinem Essay über das Absurde.
Am 10 . Januar 1940 erscheint die letzte Ausgabe des
Soir républicain
. Dann wird die Zeitung auf Erlass des Generalgouverneurs von Algerien verboten. Wenn der Generalgouverneur gewusst hätte, dass wir schon für die nächste Ausgabe kein Papier mehr hatten, dann hätte er es sicher vorgezogen, uns bei unserem Ende nicht behilflich zu sein, behauptete Pascal Pia später.
Pia reist am 8 . Februar nach Paris ab. Camus hat das sichere Gefühl, die letzte Schonzeit sei vorüber. Bisher habe er zum Spaß geschrieben, gefühlt und sogar in gewissem Sinne gelebt, schreibt er an seine Freundin Francine Faure in Oran, die den arbeitslosen Journalisten aus Algier, der nun schon seit Jahren von seiner Ehefrau Simone getrennt lebt, gerne heiraten würde.
Ein Fegefeuer der Vergangenheit
Camus ist entschlossen, ebenfalls das Land zu verlassen. Die französische Armee verzichtet angesichts seines Gesundheitszustandes auf seine freiwilligen Dienste, zu denen er sich – man mag darin einen Vorgeschmack auf den heroischen Fatalismus des Essays über das Absurde erkennen – trotz seines Pazifismus verpflichtet fühlt: Er möchte, wenn der Krieg schon nicht mehr zu vermeiden ist, zumindest sein «Leben aufs Spiel setzen». Bei regierungstreuen Blättern wie dem
Écho d’Alger
kann der ehemalige Redakteur eines amtlich verbotenen Anarchistenblattes nicht nach einer Stelle fragen.
Das große Autodafé seiner Korrespondenz soll auch äußerlich einen Schlussstrich ziehen. Er will nicht mehr sein, wer er war. Zwei Koffer voller Briefe aus den letzten fünf Jahren wirft er in seiner Wut eines Tages ins Feuer – Briefe von Max Jacob, Gabriel Audisio, Jean Grenier, André Malraux und Henry de Montherlant. Er verbrennt sein vergangenes Leben. Er möchte etwas ausmerzen, das seinen Wert für ihn verloren hat. Das Autodafé, die große Ernüchterung, der Verlust der politischen Illusionen, die persönliche Aussichtslosigkeit, der Abschied von Algerien – alles hängt und fällt mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammen.
Es folgen noch einige Wochen quälenden Wartens. Pascal Pia versucht, für ihn in Paris eine Arbeit zu finden. Camus sitzt in Oran in der Rue d’Arzeu bei der Familie von Francine und wartet auf das Telegramm, das ihn nach Paris ruft. «Was Francine Faure angeht», schreibt er an Pia, «so sind wir übereingekommen, dass ich da leben soll, wo ich leben will. Übrigens glaube ich, dass sie mir nach Paris folgen wird». [109]
Er lässt sich treiben, unterhält seine Liebschaften in Algier, unterrichtet ein wenig Philosophie in Oran, schreibt am
Fremden
und am
Mythos des Sisyphos
, lebt an der Seite Francines und «langweilt sich wie ein tote Ratte» [110] . Häufig trifft er sich mit Pierre Galindo, dem Bruder einer seiner Nebenfreundinnen, Christiane Galindo. Die Tage scheinen kein Ende zu nehmen. Camus fühlt sich wie jemand, der auf einem Bahnsteig träumend eine Zigarette raucht und darauf wartet, «dass ein Pfiff uns wieder den Landschaften der Erde entgegenwirft» [111] . Die Stimmung dieser Monate wird man sieben Jahre später im Roman
Die Pest
wiederfinden.
Dem Gefühl der Leere und Langeweile vor der Abreise nach Paris entspricht militärgeschichtlich der Sitzkrieg an der französisch-deutschen Front, das Kriegsvorspiel, das die Franzosen Drôle de Guerre nennen. Vom 3 . September 1939 bis zum 10 . Mai 1940 stehen sich das deutsche und das französische Heer bewegungslos gegenüber. Hüben und drüben putzt man die Waffen, löffelt Suppe, zählt die Munition, empfängt Besuche von
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