Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Reichtümer des Lebens verloren zu haben, als er seine Mutter verließ.
Das Lob der Armut ist ein riskantes intellektuelles Manöver. Camus weiß das. Er hat das erbärmliche, bedrückende Elend in der Kabylei gesehen. Er kennt die christlichen Mythen von den armen, aber aufrechten Menschen, die durchs Nadelöhr ins Himmelreich schlüpfen. Er sieht die Fallen der Doppelmoral, in die ein rundum versorgter Intellektueller gerät, der sich nach einer verlorenen Einfachheit zurücksehnt. Und dennoch ist er sich sicher: «In diesem Leben der Armut, unter diesen schlichten oder eitlen Leuten bin ich dem am nächsten gekommen, was mir als der wahre Sinn des Lebens erscheint.» [102]
Der
Soir républicain
Am 1 . September 1939 überfällt Deutschland Polen. Nach Art der berühmten Tagebucheintragung Kafkas vom 2 . August 1914 – «Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – nachmittags Schwimmschule» –, notiert Camus:
«Der Krieg ist ausgebrochen. Wo ist der Krieg? […] So wenig hat sich verändert. Später kommt dann ohne Zweifel der Kot, das Blut, der ungeheure Ekel. Aber am heutigen Tag wird einem nur klar, dass es mit dem Ausbruch von Kriegen ähnlich bestellt ist wie mit dem Beginn des Friedens: die Welt und das eigene Herz bemerken ihn nicht.» [103]
Die erste Folge des Krieges, die Camus bemerkt, ist die Einstellung des
Alger républicain
. Sein letzter Artikel vom 30 . August 1939 mit der Überschrift «Vom Schicksal des einfachen Mannes» darf nicht mehr erscheinen. Frankreich mobilisiert, die telegrafische Verbindung nach Paris wird gekappt, die landesweite Auslieferung der Zeitung ist nicht mehr möglich.
Pascal Pia beschließt daraufhin, sie unter dem Namen
Le Soir républicain
als zweiseitig bedrucktes Flugblatt weiterzuführen, das nachmittags in den Straßen der Hauptstadt ausgerufen wird. Das kleine Journal trägt einen gewaltigen Beinamen: «Tageszeitung für Information und Kritik im Dienst des wahren Friedens». Ihre einzigen Redakteure: Albert Camus und Pascal Pia.
Aus Zufall entdeckt Pia in Algier einen alten Lagerbestand an Papierrollen, den er an den Behörden vorbei erwerben kann. Wenn dieser Vorrat zur Neige geht, wird man die Zeitung einstellen müssen, doch das bleibt das Geheimnis der beiden Chefredakteure. «Diese Gewissheit machte uns unbeugsam in der täglichen Auseinandersetzung mit dem Offizier, der für unsere letzten Korrekturfahnen zuständig war», wird Pascal Pia sich später erinnern. Und dennoch erscheinen viele Ausgaben mit weißen Stellen, wenn der Zensur eine Formulierung oder ein ganzer Artikel nicht passt und der Text in letzter Minute vor dem Andruck entfernt werden muss. «Wir protestierten energisch», so Pia, «wenn die Zensurbehörde uns dazu anhielt, Nachrichten zu unterschlagen. Man weiß, dass die häufig sehr dämlichen Anweisungen der Zensur auch immer besonders dämlich und stur umgesetzt werden. Aber ich kann versichern, dass die Zensurbehörde in Algerien sich in dieser Hinsicht noch selbst übertroffen hat.» [104]
Seit Kriegsausbruch hat sich die Pressezensur verschärft. Zwei Hauptmänner der Kavallerie werden für die Überwachung des
Soir républicain
abgestellt und bekommen von Camus höflichst einen Platz in einer Ecke der Druckerei zugewiesen. Die beiden Chefredakteure machen sich einen Spaß daraus, in ihren Artikeln Zitate von Voltaire, Montesquieu, Pascal oder Huxley zu verstecken und die Kavalleristen damit zu verspotten: «Meine Herren, dieser Satz ist von Montaigne, wir haben den Namen weggelassen, Sie wollen ihn zensieren?» [105] Es kommt auch vor, dass Camus einen Artikel absichtlich mit zusammenhanglosen Sätzen beendet, um den ratlosen Zensoren bei ihrem schwierigen Geschäft zuvorkommend seine Hilfe anzubieten. Nicht selten verbieten die dann gleich den ganzen Artikel. Manche Ausgaben des
Soir républicain
werden auch erst verboten, als sie die Druckerei schon verlassen haben. Die Zeitungsjungen freuen sich dann, in den Straßen von Algier auszurufen: «Kaufen Sie die verbotene Ausgabe des ‹Soir républicain›!»
Auch im Krieg bleiben Pia und Camus Pazifisten. «Wir sind zutiefst pazifistisch», erklären sie in einem «Glaubensbekenntnis» im November 1939 . Der Ton des
Soir républicain
ist angespannt.
Die beiden Journalisten schreiben nicht nur gegen eine kriegführende Regierung und eine Stadt an, die nichts unversucht lässt, ihr tägliches Flugblatt zum Verschwinden zu bringen. Sie fühlen sich von der gesamten
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