Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Wirtschaftsform, welche Demokratie, welche Zeitung will man haben? Europa ist ein Scherbenhaufen. Überall in der Stadt sitzen junge Männer zusammen und brüten bis spät in der Nacht rauchend über den Drehbüchern der Zukunft. Wenn es Jahre gibt, in denen Camus’ Leben mit dem der Gegenwart und der Zeitgenossen vollkommen eins war, dann sind es diese.
Der
Combat
ist keine gewöhnliche Zeitung. Er war viele Monate lang das Mitteilungsblatt des gaullistischen Widerstands, und noch immer gilt: Wer hier schreibt, schreibt im Namen der Résistance. Auch damit hängt es zusammen, dass Camus’ Leitartikel für den
Combat
den Sonntagsrednerton nie ganz verlieren. Er schreibt hier nicht auf eigene Rechnung, sondern buchstäblich im Pluralis Majestatis und in Überstimmung mit einer nationalen «Bewegung», die nach der Befreiung von großem Einfluss ist. Auf einer Konferenz in Algier hat das Komitee der Résistance ein «Aktionsprogramm» verabschiedet, das politische, soziale und wirtschaftliche Maßnahmen vorsieht, die seiner Meinung nach auf dem Weg zur Demokratie eingeleitet werden sollten. Der
Combat
ist diesem Programm verpflichtet.
Schon im August 1944 thematisierte Camus, ähnlich wie zuletzt im
Soir républicain
, den gesellschaftlichen Auftrag und die Ethik des Journalismus. Die Zeitung sei eine «Stimme der Nation», deshalb sei man entschlossen, das Land zu veredeln, indem man seine Sprache veredle – «dafür sind viele von uns gestorben», so Camus. Deshalb wünschte sich der Leitartikler «eine klare und männliche Presse, die eine respektvolle Sprache spricht». Man solle sich des Wertes eines jeden Wortes bewusst sein, zumal die Kameraden gerade noch für die Freiheit des Wortes ihr Leben riskiert hätten. Nie dürfe man die Aufgabe aus den Augen verlieren, «der Nation ihre ureigenste Stimme wiederzugeben».
Die volkspädagogische Verantwortung der «klaren männlichen Presse» lastet auf seinen Sätzen wie Kriegsschutt. Vielen Journalisten der ersten Nachkriegsjahre, die sich in einer heute nur noch schwer vorstellbaren Weise der moralischen Erziehung und politischen Bewusstseinsbildung ihrer Leser verpflichtet fühlten, erging es ähnlich – in Frankreich wie in Deutschland. Es wird noch Jahre dauern, bis die Qualitätspresse das volkspädagogische Pathos ablegen und einen Gang zurückschalten wird vom unfehlbaren nationalen Wir einer Zeitung zum angreifbaren Ich ihrer Autoren.
Camus schreibt in diesen ersten Monaten seiner Tätigkeit als Chefredakteur wie ein Besessener. 70 Leitartikel in drei Monaten! Seine großen Themen: die Rolle der Résistance beim französischen Wiederaufbau; die Frage, wie man mit den Kollaborateuren verfahren soll (hart, aber nicht gnadenlos); was aus Deutschland werden soll (ein freies Land in Europa); wie es in Spanien weitergehen möge (ohne Franco); wie man in Frankreich eine liberale Volksdemokratie errichten kann (durch eine neue Verfassung); welche Rolle Kirche und Papst dabei spielen sollten (eine bessere als während der Naziherrschaft); welche Reformen de Gaulle auf den Weg bringen sollte (sehr viele); warum es ungut war, dass Pierre Mendès France das Wirtschaftsministerium der provisorischen Regierung de Gaulles verließ (weil er völlig zu Recht für eine staatliche Kontrolle der Wirtschaft eintrat); was ihm an den Leitartikeln von François Mauriac im
Figaro
nicht gefalle (dass sie zu schnell über die Kollaboration hinwegsahen und die Kollaborateure nicht zur Rechenschaft zogen); was man Paul Claudels De-Gaulle-Elogen entgegenhalten müsste (ihren Kitsch) und so weiter. Am 8 . August 1945 ist Camus der einzige Chefredakteur Frankreichs, der gegen den Abwurf der Atombombe über Hiroshima protestiert: «Die technische Zivilisation hat ihren bestialischen Höhepunkt erreicht.»
Die Leser können diesem Leitartikler täglich dabei zusehen, wie er jenseits des «Aktionsprogramms» der Widerstandsbewegung mehr oder weniger improvisierend nach einer politischen Linie sucht, um seine Zeitung durch das ideologische und politische Vakuum der ersten Monate nach der Befreiung zu manövrieren. Der
Combat
schmückt sich noch immer auf der ersten Seite mit der alten Kampfparole «Von der Résistance zur Revolution», obwohl ihr Chefredakteur von Revolutionen nichts wissen will und lieber in sozialdemokratischer Mäßigung von moralischen und politischen Reformen spricht. Angesichts der kommenden Globalisierung, die Camus als einer der ersten Kommentatoren
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