Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
wohlwollender Gleichgültigkeit». Nach der heroischen Gleichgültigkeit des Fremden und des Sisyphos porträtiert Camus die menschliche Gleichgültigkeit der Handelspartner in der Warengesellschaft, in der es keinen anderen Wert als das Geld gibt. Mutter und Tochter kennen keinen Grund, der sie vor dem Mord aus Geldgier bewahren könnte. Kein «Ein-Mensch-macht-so-etwas-nicht» hält sie davon ab, ihre Pensionsgäste in schöner Regelmäßigkeit nicht nur mit einem Zimmer, sondern auch mit einem Schlafmittel und einem sanften Tod im nahen Fluss zu umsorgen.
Das Drama ist ein weiteres moralisches Experiment: Wie weit geht der Mensch für Geld? Im Tagebuch schreibt Camus: «Jedes aufs Geld ausgerichtete Leben ist ein Tod». [178]
Im
Missverständnis
bleibt die Tragödie einer noch die tiefsten menschlichen Bindungen vergiftenden Profitgier begrenzt auf zwei unglückliche Frauen in Böhmen, die ihr Herz verkauft haben. Später, 1957 in seiner Rede in Uppsala, wird Camus der gesamten westlichen «Händlergesellschaft» vorhalten, sich der Herrschaft der Ziffern und abstrakten Symbole ausgeliefert zu haben.
Das Missverständnis
ist ein Lehrstück, das einzige, das Camus geschrieben hat. Doch weil dem Autor anders als zu Caligula, dieser verrücktesten und shakespearehaftesten unter allen seinen Figuren, zu den zwei raffgierigen Wirtinnen nicht viel mehr einfällt, als sie besonders raffgierig und furchtbar sein zu lassen, bleibt das Stück vergleichsweise blass. Es variiert noch einmal die Motive des Frühwerks – das Glück am Meer unter der Sonne des Südens, die Niedergedrücktheit im Norden Europas, die sprachlose Mutter-Sohn-Beziehung, den sinnlosen Mord, die Gleichgültigkeit der Mörderin –, um sie schnell wieder in den Kulissen verschwinden zu lassen. Paris hat andere Sorgen.
Die Befreiung
Am Samstag, dem 19 . August 1944 , wird in Paris der Straßenasphalt aufgerissen, Bäume werden gefällt, Säcke herbeigeschafft: Die Stadt baut Barrikaden und greift zu den Waffen. Die 2 . amerikanische Panzerdivision ist nicht mehr weit. Am Donnerstag, dem 24 . August, befreien die Amerikaner die Stadt, in der seit Tagen geschossen wird. Einen Tag später, am 25 . August, kapitulieren die Deutschen. In langen Reihen werden blasse junge Männer in feldgrauen Uniformen durch die Straßen abgeführt. Am Samstag defiliert Charles de Gaulle auf den Champs-Élysées und verkündet den Franzosen mit der Stimme eines großen Theatertragöden eine große Lüge: Paris habe sich selbst aus eigener Kraft befreit. Unendlicher Jubel.
Der Chefredakteur der nunmehr legal erscheinenden Tageszeitung
Combat
trägt zu dieser Legende, auf die man sich in Paris in Windeseile geeinigt hat, am 24 . August in seinem ersten namentlich gezeichneten Leitartikel bei:
«Paris feuert aus all seinen Waffen in die Augustnacht. In der gewaltigen Landschaft aus Stein und Wasser, rings um den geschichtsbeladenen Strom, erheben sich wiederum die Barrikaden der Freiheit. Wiederum muss die Gerechtigkeit mit dem Blut der Menschen erkauft werden.»
Es gibt viele Opfer in diesen Tagen. Verglichen damit ist das Opfer, das Camus bringt, unbedeutend: Er opfert seine Sprache. In den ersten Leitartikeln im freien
Combat
hört man eine beklemmend verstellte Stimme:
«Während die Kugeln der Freiheit noch durch die Stadt schwirren, ziehen, von Geschrei und Blumen begrüßt, die Kanonen der Befreiung durch die Tore von Paris. In der schönsten und heißesten aller Augustnächte gesellt der Pariser Himmel den ewigen Sternen die Leuchtspurgeschosse hinzu, den Rauch der Feuersbrünste und die bunten Raketen der Volksfreude.» [179]
In beiden historischen Artikeln, die Camus unmittelbar nach der Befreiung von Paris geschrieben hat, finden sich zahllose angelernte Phrasen, viel minderwertige Lyrik, ein haltloses Schwadronieren über die Wahrheit, die so lange Zeit mit entblößter Brust dagestanden habe, doch nun bewaffnet und kämpfend in Paris Nachtwache halte und dergleichen mehr. Die historische Wahrheit dieser Artikel bleibt begrenzt: Der vergleichsweise bescheidene Anteil des Pariser Aufstandes an der deutschen Niederlage wird unter einem bombastischen Wortschwall begraben, in dem die «Kugeln der Freiheit» nur so um die Pariser Straßenecken pfeifen.
Camus macht sich mit dieser Journalistenpoesie schnell einen Namen. In Paris liest man so etwas jetzt gern. Doch wer spricht da? De Gaulle, dessen Ansprachen an das «ewige Frankreich» in diesen Tagen
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