Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Gerechtigkeit für die französischen Opfer der Gewalt in Sétif, ohne zu ahnen, dass in den nächsten Tagen und Wochen blutige Vergeltung an Tausenden von Arabern geübt wird. Sein Appell bleibt vage und geht über den alten Blum-Viollette-Plan, der eine Gleichbehandlung ausschließlich für die assimilierte arabische Elite vorsah, noch immer nicht hinaus: Man solle «diese Menschen» wie seinesgleichen behandeln und arabischen Hochschulabsolventen Bürgerrechte einräumen sowie das Schulsystem (gemeint ist natürlich: das französische) für die muslimische Bevölkerung verbessern. Junge Franzosen, die nach dem Krieg eine neue Perspektive suchten, sollten zu diesem Zweck nach Algerien entsandt werden, wo «sie sowohl der Menschheit als auch ihrer Heimat dienen könnten». Das klingt noch nicht wirklich nach kolonialer Abrüstung und wiederholt lediglich, was der Redakteur des
Alger républicain
in seinen Reportagen über die Kabylei schon vorgeschlagen hatte. Camus wird ein Algerien ohne Franzosen bis zu seinem Tod für undenkbar halten. Allerdings findet man in dieser Artikelserie am 23 . Mai 1945 auch den Satz: «Die Zeit des westlichen Imperialismus ist vorbei.»
Ein deutsches Zwischenspiel
Am 27 . Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Die Nachricht von den Gaskammern und den 7 , 7 Tonnen menschlichen Haars, die die Rote Armee dort fand, geht um die Welt. In den Tagebüchern und auch im
Combat
greift Camus sie nicht auf. Es gibt kein Wort von ihm über Auschwitz.
Ein halbes Jahr später, Ende Juni 1945 , reist Camus als einer der ersten Chefredakteure der Welt ins besetzte Deutschland. Der Reporter besucht Dörfer und Landstriche in der französischen Besatzungszone und kann nicht fassen, was er sieht: ein reiches und idyllisches Land voller lachender junger Mädchen, die auf den Wiesen Rundtänze aufführen, Blumen pflücken und wohlgenährten Kindern rote Kirschen an die Ohren hängen; Heumacherinnen in reinlichen Kleidern; alte Paare, die abends friedlich durch die Alleen wandeln. Überall entdeckt er Anzeichen eines glücklichen und komfortablen Lebens. Am Bodensee besucht er die französischen Truppen, beobachtet sie beim Baden und Kanu fahren vor der Kulisse der Alpen. Die Deutschen, so scheint es ihm, lebten so friedlich neben den Besatzern, als hätten sie es nie anders gehalten. Sein Gastgeber, ein freundlicher alter Mann wie aus dem Grimm’schen Märchenbuch, erzählt ihm Geschichten vom ewigen Frieden, den man sich wünsche.
Diese «Bilder aus Deutschland» mit ihrer «überraschenden Anmutung von Glück und Geruhsamkeit», so schreibt der Deutschlandfahrer anschließend im
Combat
, passten nicht zu dem Bild von den deutschen «Henkern». Der Reporter ist verwirrt und macht keine Anstalten, diese Verwirrung vor seinen Lesern zu verbergen: «Man wird mich verstehen, wenn ich aus all dem keine weiteren Schlüsse ziehen möchte». [188]
Dabei bleibt es. Nicht allein Auschwitz, auch andere Lager, die nun aus der Gewalt dieses überraschend geruhsam anmutenden Nachbarlandes befreit werden, finden keinerlei Erwähnung in den täglichen Leitartikeln des Chefredakteurs. Nur einmal beschäftigt er sich mit der Lage im befreiten KZ Dachau – weil die medizinische Versorgung der französischen politischen Häftlinge dort Anlass zur Sorge gab («Es geht uns nur um eines: die kostbarsten französischen Leben zu retten»). Weder das seit dem Frühjahr 1945 bekannt gewordene Ausmaß der Judenvernichtung noch die Deportationen der Pariser Juden vor aller Augen und mit Hilfe der französischen Miliz im Sommer 1942 fanden in den einflussreichen und vielgelesenen Artikeln Camus’ einen Niederschlag.
In seinem Essay
Der Mensch in der Revolte
wird er später zwar den Satz schreiben: «Die Verbrechen Hitlers, darunter die Abschlachtung der Juden, sind in der Geschichte ohne Beispiel, denn die Geschichte berichtet von keinem Fall, in dem die Doktrin einer derartigen Zerstörung die Kommandostelle einer zivilisierten Nation einnehmen konnte». [189] Doch dient ihm dieses «Verbrechen ohne Beispiel» selbst nur als Beispiel für die Auswüchse, zu denen der Nihilismus in Deutschland geführt habe. Deutschland bleibt für ihn das Land des tiefsten Unglücks – das Unglück, das sich allzu tief eingenistet habe, so Camus, wecke eine Bereitschaft zum Unglück, die einen zwinge, sich selbst und die anderen hineinzustürzen. Er wird nie wieder nach Deutschland reisen. Berlin, Leipzig oder Hamburg wird er nie
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