Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
auswendig. Überhaupt war er ein unersättlicher Leser und Büchersammler, über Jahre betrug sein Pensum zwei Bücher am Tag. In seiner Jugend lebte er eine Zeitlang vom illegalen Vertrieb erotischer Literatur.
Seine politische Haltung fasste er so zusammen: «Ich bin gegen persönliche Machtausübung, das ist so ungefähr alles.» Er wohnte in den damals wenig attraktiven Stadtteilen im nördlichen Paris. Seine Stimme soll ein bisschen heiser gewesen sein – selbstverständlich war er Kettenraucher. Nach seinen Aussichten im Jenseits befragt, antwortete er: «Ich hoffe, ich habe ein absolutes Recht auf das Nichts.» Roger Grenier betonte Pias Nihilismus. Im Alter schrieb er Bücher über Baudelaire und Apollinaire und stellte einen zweibändigen Katalog über die
Livres de l’Enfer
, die «Höllenbücher», vom 16 . Jahrhundert bis zur Gegenwart zusammen.
Als er 1979 starb, hinterließ er den Wunsch, dass von ihm nicht mehr gesprochen und seine Texte nicht mehr verbreitet würden. Er zitierte häufig den Ausspruch Baudelaires, wonach man die Grundrechte des Menschen um zwei Dinge erweitern müsse – das Recht, sich zu widersprechen, und das Recht, wegzugehen. Camus’ Aufstieg zum Weltstar der Literatur missfiel Pia. Doch es passte genau, dass der ihm seinen Essay über den absurden Menschen widmete: Wenn Sisyphos ein Mensch gewesen wäre, hätte er Pascal Pia heißen müssen.
Man ahnt es schon – seine Bedeutung im Leben Camus’ spielte er stets herunter. Dem ersten (allseits wenig geschätzten) amerikanischen Camus-Biographen Herbert R. Lottman, der ihn als Camus’ «besten Freund und schlimmsten Feind» bezeichnet hatte, schickte er einen empörten Brief mit Durchschrift an Francine. Er sei niemals der Vertraute Camus’ gewesen. Verglichen mit Freunden wie Claude de Fréminville oder Jean Grenier habe er im Leben Camus’ kaum eine Rolle gespielt. Dieser Darstellung widersprach nun wiederum Francine Camus mit Nachdruck. Neunzehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes und wenige Monate vor ihrem eigenen schreibt sie Pascal Pia einen letzten Brief.
«Lieber alter Freund,
Ihr Brief war eine der wenigen Freuden, die mir das Buch von Herrn Lottman beschert hat. Zunächst verweist er Herrn Lottman, dessen gesamtes Buch aus «poetic licences» besteht, auf den Platz, der ihm gebührt. Vor allem liefert er mir aber den Schlüssel zu einem Rätsel, das mich lange Zeit beschäftigt hat. Ich glaube, dass Sie sich irren. Die Bewunderung und Freundschaft, die Albert Ihnen entgegen gebracht hat (ohne wirklich viel über Sie zu wissen oder vielleicht auch weil er nicht viel über Sie wußte) war unvergleichlich stärker als die Bruderschaft, die ihn mit einem Landsmann verband und die Kameradschaft, die er für einen Gleichaltrigen empfand, dessen Überzeugungen er nicht teilte. Aber ich werde Sie nicht umstimmen und außerdem interessiert Sie das nicht. Danke, dass Sie mir geschrieben haben. Das beweist, dass Sie sich noch an mich erinnern, und das macht mir Freude.
Ich habe noch eine lebhafte Erinnerung an Sie und an Suzanne und Colette [Frau und Tochter] – was den Rest angeht, sterben wir alle mit unseren Rätseln und Geheimnissen und mit unserer Sehnsucht – jedenfalls geht es mir so – nach einer unmöglichen Transparenz.
In alter Erinnerung
Francine Camus» [187]
Combat
Zu seinen Mitarbeitern sagte Pia: «Wir versuchen eine vernünftige Zeitung zu machen. Aber weil die Welt absurd ist, wird das scheitern». Damit sollte er recht behalten. Den
Combat
, wie Camus und Pia ihn verstanden, gab es nur drei Jahre. Doch allen, die dabei waren, kamen diese Zeit und ihre Zeitung noch lange wie ein Wunder vor.
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Combat
-Redaktion 1944 , Camus 6 . v.l., Pascal Pia 4 . v.r.; Roger Grenier 5 . v.r., mit Brille; Jean Bloch-Michel, vorn l. neben Grenier, zu Camus schauend
Der
Combat
erscheint nach der Befreiung offiziell und täglich auf vier Seiten. Camus schreibt fast in jeder Ausgabe den Leitartikel. Nach Redaktionsschluss steht man zusammen, trinkt Bourbon in Hemdsärmeln, die Zigarette im Mundwinkel. Es ist das alte Mannschaftsgefühl, das Camus vom Fußball in Algier kennt und das er so liebt. Das bisschen Moral, das er habe, stamme aus den Fußballstadien, wird er einmal in einem Fernsehinterview sagen.
Der Nachkriegsjournalismus ist in seinen ersten Jahren vom Fieber des Grundsätzlichen befallen. Man will alles von Grund auf neu bestimmen. Was soll aus Frankreich werden? Welche
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