Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
besuchen, auch Warschau, Danzig oder Krakau nicht. Im Osten, davon ist er zeitlebens überzeugt, gibt es nichts, was ein Menschenherz erfreuen könnte.
Sartre (I). Der freundliche Feind
In diesen Wochen berichten die Pariser Zeitungen nahezu täglich von Sartre und dem Existenzialismus. Camus schätzt Sartre – ein wenig. Er hat
Der Ekel
1938 im
Alger républicain
so anerkennend-ironisch rezensiert wie Sartre vier Jahre später den
Fremden
. Camus hatte Sartres Romandebüt süffisant eine «extravagante Meditation» genannt, der er vorwarf, nicht weit genug gegangen zu sein, wobei der damals 24 -jährige Rezensent dem 33 -jährigen Autor immerhin eine gewisse «natürliche Behändigkeit» zugutehielt, mit der dieser sich in den «Außenbereichen des bewussten Denkens» aufzuhalten verstehe. [190]
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Jean-Paul Sartre am Fenster seiner Pariser Wohnung
Die Freundschaft zwischen Sartre und Camus, von der gern gesprochen wird, hat es niemals gegeben. Doch haben die beiden Stars von Saint-Germain-des-Prés auf den ersten Blick vieles gemeinsam. Beide – vaterlos aufgewachsen – bleiben ihr Leben lang bekennende Muttersöhne. Beide sind linksintellektuelle Generalisten, gründen Zeitungen, sind Philosophen, Theaterautoren, Journalisten, Romanautoren und öffentliche Intellektuelle. Beide haben ihre prägenden Einflüsse von der deutschen Philosophie empfangen, bei Husserl und Heidegger der eine, bei Nietzsche der andere. Beide bevorzugen literarisch einen gemäßigten Modernismus. Beide sind moderne Tragöden, die ihr Leben lang an dem metaphysischen Schock entlangschreiben, der das 20 . Jahrhundert traf, als es bemerkte, dass der Mensch zwar von Zeit zu Zeit im Café de Flore, doch niemals in den endlosen Räumen des Kosmos von jemandem erwartet wird.
Wenn Camus und Sartre sich im Jahr 1953 nach einem bösen Verriss von Camus’
Der Mensch in der Revolte
in Sartres Zeitschrift
Les Temps modernes
öffentlich entzweien, besiegeln sie eine Feindschaft, deren Vorzeichen von Anfang an nicht zu übersehen waren. Der Hochmut, den der Eliteschüler der École Normale Supérieure dem Parvenü und Provinzjournalisten Camus entgegenbrachte, wird sich dem Nobelpreisträger gegenüber nicht legen. Die beiden stehen sich in ihrer Verachtung füreinander in nichts nach.
In den späten vierziger Jahren umkreisen sie sich im Quartier Latin noch mit amüsiertem Respekt. Sartre ist kein Eiferer und zu intelligent und erfolgreich, um kleinlich zu sein. Doch mit der missgünstigen Aufmerksamkeit des Zukurzgekommenen bemerkt er sofort das Gigolohafte, das vom Frauenhelden Camus ausgeht, dessen Charme auch Simone de Beauvoir zeitweilig erliegt. Als man Sartre auf seiner ersten Amerikareise nach dem berühmten Chefredakteur fragt, der den Philosophen für eine Reportage nach New York geschickt hat, antwortet er: «Camus, das ist ein Schriftsteller aus Algerien, ein ‹pied-noir›, das genaue Gegenteil von mir. Er ist schön, elegant und er ist Rationalist». [191] Als umgekehrt eine Journalistin Camus im November 1945 nach Sartre fragt, antwortet er: «Sartre und ich, wir wundern uns immer, dass man unsere Namen so eng verbindet. Seit wir uns kennen, fallen uns nur die Unterschiede zwischen uns auf.» [192] Auch später bleibt es ihm wichtig zu betonen, dass Sartres Werk für ihn keinerlei Bedeutung habe, schon die klimatischen Bedingungen, unter denen es entstand, seien ihm völlig fremd.
Beide erfüllen geradezu vorbildlich ihr Rollenfach. Sartre gibt den intellektuellen Bohemien: sorglos, kindlich, großzügig, dickköpfig, ironisch, unbürgerlich, neugierig, redselig, ausführlich, ungewaschen und bei Bedarf bösartig. Camus gibt den geistigen Handwerker: ernst, streng, männlich, bescheiden, kurz angebunden, pflichtbewusst, aufopferungsvoll, asketisch, anständig, zuverlässig, sorgenvoll, ordentlich gekämmt und bei Bedarf pathetisch.
Sartre macht, was er will. Dem Widerstand fühlt er sich nicht sonderlich verpflichtet. Pascal Pia nennt ihn, in boshafter Anspielung auf die Vichy-Regierung, den «Vichinsky vom Café de Flore» [193] . Während Camus sich nach dem Krieg für den geistigen Wiederaufbau Frankreichs die Finger wund schreibt, promeniert Sartre durch New York, lässt sich von Roosevelt empfangen und von Verehrerinnen verwöhnen. Sartre hat eine eigene Pressesprecherin: Die unermüdliche Simone de Beauvoir arbeitet mit einem wahren Bienenfleiß in Briefen, Tagebüchern und autobiographischen
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