Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Romanen an ihrer beider Hochglanzbild als intellektuelle Ikonen der Nachkriegszeit. Camus hat nur den strengen Eigenbrötler Pascal Pia und die lebenslustigen Gallimards.
Sartre ist der weltgewandtere von beiden. Er hat in Berlin studiert und beginnt gleich nach dem Krieg sein ausuferndes Reiseleben, das ihn in kurzer Zeit nach Amerika, Afrika, Russland, China und Kuba führen wird.
Camus hat sein halbes Leben in Nordafrika verbracht und bisher nicht viel von der Welt gesehen. Er war in Italien und auf den Balearen, einmal in Österreich und in der Tschechoslowakei, zweimal jeweils sehr kurz in Deutschland. Er spricht außer einem schlechten Englisch und ein paar Brocken Spanisch keine Fremdsprachen, hat Mitteleuropa bisher immer nur verlassen, um zu seiner Mutter in die algerische Heimat zu fahren. Es gibt für ihn wahrlich auch sehr persönliche Gründe, die Mittelmeerkultur zeitlebens für das Maß aller Dinge zu halten. Sartre wird Camus später im Streit unterstellen, er habe mit seiner Philosophie der mediterranen Einfachheit nur von seinen persönlichen Schwierigkeiten ablenken wollen: «Sie sind das Opfer einer dunklen Maßlosigkeit geworden, die Ihre inneren Schwierigkeiten überdeckt und die Sie, glaube ich, das mittelmeerische Maß nennen». [194] Damit trifft der mondäne Sartre ins Herz ihrer Auseinandersetzung und auch ins Herz des algerischen Aufsteigers, der zu seinem unerbittlichsten Gegner wird.
Camus ist es immer gelungen, seine Schwächen zu seinen Stärken zu erklären. Er hat nie versucht zu werden, was er nicht werden konnte. Seine bildungsferne Herkunft, über die zu spotten Sartre nicht lassen kann («es kann schon sein, dass Sie einmal arm waren»), verleugnet er nicht, im Gegenteil, er erhebt sie zum Fundament seines Denkens – zur Schule der Einfachheit und des Anstands. Sein unüberwindliches Misstrauen gegen die urbane, rhetorisch überragende Pariser Intellektualität Sartres, die er im Innersten für geschwätzig und korrupt hält, macht Camus zu seinem größten Kapital.
In seinem Nachlass fand sich eine kleine, zu Lebzeiten nie publizierte Satire von 1947 , die Camus «Impromptu des philosophes» genannt hatte und in der er sich gnadenlos über Sartres Philosophie erheiterte. Ein gewisser Monsieur Nichts («mein Name ist in Paris ziemlich bekannt») besucht einen braven Apotheker, Monsieur Vigne, und bekehrt ihn zum Existenzialismus ausweislich einiger Thesen aus Sartres Hauptwerk
Das Sein und das Nichts
, das Camus, wie nachgelassene Lektürenotizen nahelegen, immerhin zu einem Drittel gelesen hatte. Nach dem Besuch von Monsieur Nichts ist Monsieur Vigne darüber belehrt, dass er ohne den anderen nichts sei, dass er sich in dem, was er ist, jedoch nur verwirklichen kann, wenn er auch den anderen dabei behilflich ist, das zu werden, was sie sind und so weiter. Camus parodiert den hegelianischen Jargon Sartres: «Das Sein, indem es sich hervorbringt und hervorbringt, dass es sich hervorbringt, ist das kommende Sein, ohne dass es irgendetwas wäre.» [195] Restlos überzeugt von der Weisheit dieser neuesten Philosophie aus Paris, wo man «so schöne Gedanken» herstellt, rät Monsieur Vigne dem Bräutigam seiner Tochter, kriminell, und der Tochter, schwanger zu werden, bevor sie die Ehe eingingen: «Vergesst nicht die menschliche Liebe und übt sie hinter verschlossenen Türen. So werdet ihr frei und bald verheiratet sein.» Schließlich macht der Direktor des Irrenhauses, dem der Meisterdenker in Wahrheit entsprungen ist, dieser so amüsanten wie bösartigen Posse über den aufgeblasen um sich selber kreisenden Pariser Intellektuellen alias Sartre ein Ende. Und Camus lässt alles wieder in der Schublade verschwinden.
Sartre und Camus – das ist nicht nur die Geschichte eines selbstbewussten, politisch korrumpierten Linksintellektuellen und eines bescheidenen, politisch gemäßigten Moralisten. Das ist auch die Geschichte zweier Feinde, die von Anfang an wissen, wie sehr die Welt des anderen die eigene von Grund auf in Frage stellt. Wenn zuträfe, was Sartre behauptete, und Camus die Einfachheit allein aus Verlegenheit über seine Herkunft zu seinem intellektuellen Hausmittel erhob, dann bliebe von Camus’ Lehre von der mediterranen Einfachheit und dem schlichten menschlichen Anstand wenig übrig. Wenn umgekehrt Camus recht behielte und Sartres hochmütiger Dogmatismus jedes Mitgefühl mit den Opfern des Totalitarismus und jedes politische Augenmaß ausschloss, dann wäre
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