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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Sartres Philosophie im Innersten beschädigt.
    In der
Pest
, die Camus schließlich nach acht Jahren Arbeit 1946 vollendet, wird Tarrou, eine ganz und gar Pascal Pia nachempfundene Figur, den entscheidenden Satz sagen, mit dem Camus sich von Sartre und dem Sartre-Kosmos verabschiedet: «Ich habe so viele Diskussionen gehört, die mir fast den Kopf verdreht hätten und die genügend andere Köpfe verdreht haben, bis sie dem Morden zustimmten, dass ich verstanden habe, dass das ganze Unglück der Menschen entsteht, weil sie keine klare Sprache sprechen.» [196]
    Keinem der beiden Pariser Schriftstelleridole gelingt es, den anderen jenseits des Klischees vom anständigen, aber beschränkten intellektuellen Parvenü auf der einen und vom brillanten, aber korrumpierten intellektuellen Glasperlenspieler auf der anderen Seite wahrzunehmen. Wenn alles vorbei und Camus tot ist, wird Sartre in seinem Nachruf im
France-Observateur
am 7 . Januar 1960 ein paar freundliche Worte für den Rivalen finden: «Ein Streit, das ist nichts, nur eine andere Art zusammenzuleben, ohne sich aus den Augen zu verlieren, in dieser engen Welt»; und wird sich nicht zurückhalten können, den Gegner noch im Grab zu belehren: «Dieser Cartesianer des Absurden weigerte sich, das sichere Terrain des Moralismus zu verlassen und sich auf die unsicheren Wege der Praxis zu begeben». Sartre wird es im folgenden Jahrzehnt auf den «unsicheren Wegen der Praxis» noch bis nach Stammheim bringen, wo er dem RAF -Terroristen Andreas Baader die Ehre erweist, vom wichtigsten Pariser Intellektuellen besucht zu werden. Was hätte Camus dazu gesagt? «Ein Mensch macht so etwas nicht.»

Die Pest
    An keinem Buch hat Camus so lange und unter so vielen Qualen gearbeitet. Wieder und wieder hat er es umgeschrieben, Figuren gestrichen oder neu hinzugefügt – der Briefwechsel mit dem Freund Louis Guilloux berichtet ausführlich davon, wie Camus mit diesem Manuskript rang, als sei er selber an der Seuche erkrankt. Obwohl der Roman üblicherweise als ein Werk der Okkupation gelesen wird, reichen die Entwürfe und Notizen zu diesem Buch zurück bis in die Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
    Die Pest
 – der Erzähler nennt das Buch eine «Chronik» – handelt von Camus’ Lebensgefühl, zum Tode verurteilt zu sein. Die Pestwelt ist eine Männerwelt, ein Freundschaftsbund der einsamen Pessimisten, der Originale und der selbstlosen Arbeiter. Beinahe alle Männer des Romans schreiben oder versuchen sich im Schreiben: Dr. Rieux stellt sich am Schluss der «Chronik» als deren Verfasser vor, Tarrou hinterlässt dem Chronisten seine Aufzeichnungen; Rambert ist Journalist; und Grand arbeitet den ganzen Roman über an einem einzigen Satz, den er endlos variiert.
    Sie alle sind eng miteinander verbunden und bilden ein männliches Netzwerk, in dessen Zentrum Rieux und Tarrou alias Camus und Pia stehen. Die Frauen spielen in den Romanen Camus’, wie erwähnt, bestenfalls unbedeutende Nebenrollen – seine Misogynie jenseits seines Casanovatums ist niederschmetternd, «außer in der Liebe ist die Frau langweilig», [202] vermerkt er im Tagebuch. In der
Pest
nun sitzt die Mutter des Arztes und Erzählers Dr. Rieux, strickend ihrem Schicksal ergeben, im Romanhintergrund herum, ein stummes Denkmal für die einzige Frau von Bedeutung im Leben des Autors.
    Der Roman erzählt von einem neun Monate währenden Ausnahmezustand. Gerade war Oran noch eine gewöhnliche, geschäftstüchtige Stadt am Meer, eine «Stadt ohne Ahnungen», in der man arbeitet, sich entspannt und sonntags aus Langeweile zu viel Kaffee trinkt. Dann kommt der Tag, an dem die Ratten sich pfeifend zusammenkrümmen und sterben, und dann der nächste, an dem die Haut der Menschen aufplatzt und die Säfte des Inneren freigibt. Die Stadttore werden geschlossen. Die Pest macht Oran zur Todeszelle, seine Bewohner zu Todeskandidaten. Aus dem Moment, in welchem im
Sisyphos
-Essay die Kulissen einstürzen und die Welt in einen absurden Glanz getaucht wird, ist, nach dem epochemachenden Schlagwort von Henri Bergson, eine «lange Dauer» des Schreckens geworden. Ein Albtraum beginnt, der, durch das historisierende Prisma des Chronisten betrachtet, allem Menschlichen so entrückt erscheint, als träumte ihn ein Außerirdischer auf einem fernen Stern.
    Camus kannte die Symptome der Pest und ihren medizinischen Verlauf. Den entscheidenden Anstoß für die Konzeption des Romans gab vermutlich der Essay von Antonin

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