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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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pompöse Ton, der ihn ans Schwurgericht denken lasse, ohnehin könne Camus einer Republik der «schönen Seelen» sicher als Chefankläger dienen. Und überhaupt: Woher nehme Camus eigentlich das Recht, über Jeanson zu reden wie über ein Ding, dessen Namen man nicht kennt? Woher diese Überheblichkeit?
    Und dann, nachdem er zwölf Seiten lang Anlauf genommen hat, holt Sartre zu dem finalen Schlag aus, von dem Camus sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu Lebzeiten nicht mehr erholen wird: «Und was, wenn Ihr Buch einfach nur von Ihrer philosophischen Inkompetenz zeugen würde? Wenn es voller eilig und aus zweiter Hand zusammengesuchter Erkenntnisse wäre? […] Wenn Sie nicht besonders gut denken könnten? Wenn Ihre Gedanken vage und banal wären?» [240] Camus lasse nicht einmal die Diskussion über seine Werke zu, akzeptiere nur Häupter, die sich vor ihm verneigten, ziehe sich in ein Universum nicht zu hinterfragender Werte zurück und so weiter. Es folgen noch einige ausgesuchte Frechheiten, etwa die, dass er, Sartre, und Hegel immerhin gemeinsam hätten, von Camus nicht gelesen worden zu sein. Er zögere jedoch, Camus die Lektüre von
Das Sein und das Nichts
zu empfehlen, da sie ihm wahrscheinlich zu mühsam würde.
    Im Großen und Ganzen wiederholte Sartre sehr viel eloquenter als sein Vorgänger den Vorwurf, Camus entziehe sich den Kämpfen der Gegenwart. Er erinnerte an den Autor des
Sisyphos
, an den Résistancekämpfer, an den Verfasser der
Briefe an einen deutschen Freund
und resümierte, dass Camus sich der Geschichte stets nur widerwillig gestellt habe. Doch die Geschichte habe ihm eine einmalige Chance eröffnet: Der gemeinsame Kampf gegen die Deutschen habe sich mit seinem Kampf gegen den Fatalismus überlagert. Sartre versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass es nur der Zufall («un concours de circonstances») war, der Camus in die Rolle des Schriftsteller-Helden seiner Zeit katapultiert habe. Doch auch wenn man ihm die fatalistische Ineinssetzung des Absurden, der Pest und der Deutschen noch habe durchgehen lassen, so sei der Kampf gegen das Absurde im Reichenvorort Passy nun nicht derselbe wie im Arbeiterbezirk Billancourt, und auch die «Wiederentdeckung des Körpers», die Camus predige, sei für den geschundenen Arbeiter ein Hohn. Camus’ entscheidendes Argument, wonach der Marxismus in den Lagern der Sowjetunion gescheitert war, wurde von Sartre im Vorbeigehen abgetan: «Ja, Camus, ich finde genau wie Sie die Lager unzulässig: Aber genauso unzulässig finde ich den Gebrauch, den die sogenannte ‹bürgerliche Presse› von ihnen macht». [241]
    Am Ende verkündet Sartre sein Urteil, es wird die Höchststrafe: Der Angeklagte wird zum Tode verurteilt. «Ihre Persönlichkeit, die wirklich und lebendig war, solange sie sich von den Zeitläuften ernährte, ist nun nur noch eine Fata Morgana, 1944 war sie die Zukunft, 1952 ist sie die Vergangenheit.» [242] Camus sei Vergangenheit, weil nichts von dem, worauf er sich berufe, noch vorhanden sei, die Natur, die innere und die äußere, habe sich aufgelöst. Sartre sieht voraus, dass Camus mit seiner Moderne-Kritik darauf zustrebt, «uns zu verlassen» und sich in die «Einsamkeit zurückzuziehen» oder zumindest in eine «Zivilisation, die noch auf einem niedrigeren technischen Stand» verharrt. Richter Sartre erlaubt dem Verurteilten generös, noch einmal in Berufung zu gehen, die Seiten seiner Revue ständen ihm offen. Er, Sartre, werde sein Urteil jedoch nicht mehr revidieren.
    Dieser Text war eine Ungeheuerlichkeit. Wer ihm recht gab, und die gesamte linksorthodoxe Intelligenz gab ihm recht, entzog Camus jede weitere öffentliche Existenzberechtigung. Sartre hatte seinen mächtigsten Gegner auf 20  Zeitungsseiten matt gesetzt und aus dem Feld geschlagen. Paris lag von nun an für viele Jahrzehnte ihm allein zu Füßen. Simone de Beauvoir behauptete später, der Camus, den sie einmal gern hatte, habe zu dieser Zeit ohnehin nicht mehr existiert.
    Camus erholte sich von diesem Schlag nicht mehr. Er schrieb noch einen langen persönlichen Rechenschaftsbericht zum
Revolte
-Essay, der in der Schublade liegen blieb und erst posthum veröffentlicht wurde. Und eine indirekte Antwort auf Sartre fand sich 1955 in dem zitierten Brief an Roland Barthes, der die
Pest
viele Jahre nach ihrem Erscheinen verriss und dabei Sartres Argument wiederholte, Camus trete «aus der Geschichte aus» und verschließe sich in einer überzeitlichen Isolation. Der

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