Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
europäischen Nachkriegsordnung für de Gaulle zusammenfasste. [229] Doch anders als Kojèves machtstrategische Kulturkreistheorie, die einen mediterranen Staatenbund gegen eine neuerliche deutsche Vormachtstellung in Europa favorisierte, blieb Camus’ Sonnendenken mit Bedacht ungreifbar und geheimnisvoll. In den letzten Zeilen seiner großen Welterklärungsschrift paraphrasierte er einige der erdenschweren, dunkel leuchtenden Gedichtzeilen seines Freundes René Char:
«In dieser Stunde, da jeder von uns seinen Bogen spannen muss, um seine Probe wieder abzulegen, mit und gegen die Geschichte zu erwerben, was er schon besitzt, die karge Ernte seiner Felder, die kurze Liebe dieser Erde, in dieser Stunde, da endlich ein Mensch ins Leben tritt, muss man die Epoche und ihre unreifen Rasereien sich selbst überlassen. Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannung erreicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und freieste Geschoß.» [230]
Nachdem er sein kräftezehrendes, politisch-literarisches Glaubensbekenntnis abgeschlossen und in Lyrik überführt hat, möchte er die Epoche und ihre unreifen Rasereien sich selbst überlassen. Camus möchte aussteigen. Er sucht nun ernsthaft einen Notausgang aus dieser entsetzlichen Anwesenheitspflicht in seinem entsetzlichen Zeitalter. Ihm bleiben noch acht Jahre. Und Char hat noch immer kein Haus gefunden.
Sartre (II). Eine öffentliche Hinrichtung
Als
Der Mensch in der Revolte
am 18 . Oktober 1951 bei Gallimard erscheint, fühlt sein Verfasser sich leer, verzweifelt. Er wohnt in einer neuen Wohnung in der Rue Madame. Dritter Stock, fünf Zimmer, ein Balkon zur Straße, Schattenseite. Zu keiner Tageszeit fällt ein Sonnenstrahl durch die Fenster der Hausnummer 29 . Der mediterrane Lichtanbeter hat diese lichtloseste aller Wohnungen mit Hilfe der Gallimards gekauft. Francine spielt hier im dunklen Salon bis zu sechs Stunden täglich Johann Sebastian Bach auf dem Klavier. Die Kinder sind jetzt sechs Jahre alt, und Camus nennt sie, wenn er überhaupt von ihnen spricht, «meine Nebenwerke» [231] .
Am 26 . Oktober schreibt er an Bruder Char: «Ich bin, nachdem ich dieses Buch herausgebracht habe, in einem Zustand ‹luftiger› Depression.» [232] Er findet die Stadt wieder einmal frivol und ermüdend. Und dann fährt er fort, aus dem Stand, ohne Anlass: «Das allerschlimmste wäre, allein zu sterben und voller Verachtung.»
Man kennt die Klagen über die Stadt, das Exil, sein krankes Leben. Doch so schlecht wie jetzt ging es ihm noch nie. Zwei Jahre zuvor, 1949 , hatte er sich zu einer Vortragstournee durch Südamerika hinreißen lassen. Rio de Janeiro, São Paulo, Iguape, Montevideo, Buenos Aires, Chile, wieder Buenos Aires, wieder Montevideo, wieder Rio. Alles in acht Wochen. Es ging ihm schlecht auf dieser Reise, er war traurig, lebensmüde und hatte nur eine einzige kurze Affäre. Danach war er todkrank, ein neuer Ausbruch der Tuberkulose, so heftig wie noch nie. Es folgten endlose Kuren, Landaufenthalte im Mittelgebirge und in der Provence, mal mit Francine, mal mit Maria oder allein mit dem
Menschen in der Revolte
– den er mehr oder weniger, nein, nicht auf dem Totenbett, aber doch im Krankenbett zu Ende schrieb. Camus ist verletzlich. Im Februar war André Gide gestorben, was ihn trotz allem tief berührte. Breton parierte Camus’ Angriff nach einem Vorabdruck des Kapitels über Lautréamont sogleich in den
Cahiers du Sud
und kanzelte ihn als moralisierenden und «vulgären» Kleinbürger ab, der Lautréamont weder gelesen noch verstanden habe. Der Angriff des Kollegen, den er selbst nicht geschont hat, bringt ihn völlig aus der Fassung. Er hält so etwas schlecht aus und hat, wie er in diesen Tagen an Grenier schreibt, so eine «kastilische Dimension» [233] in sich, die ihn wie einen verletzten Stier in der Wohnung auf und ab laufen lasse.
Die «kastilische Dimension» treibt ihn in den folgenden Monaten zu unzähligen Antwortbriefen an die verschiedensten Zeitungsredaktionen, die es gewagt hatten, missgünstige Artikel über seinen Essay zu veröffentlichen. 19 . Oktober 1951 : «Monsieur le rédacteur en chef». 18 . November 1951 : «Monsieur le rédacteur en chef». 28 . Mai 1952 : «Monsieur le directeur». Mai 1952 : «Monsieur le rédacteur en chef». Juni 1952 : «Monsieur». 30 . Juni 1952 : «Monsieur le directeur». Es folgen jeweils 3 bis 17 Druckseiten. Er lässt nichts auf sich sitzen. Punkt
Weitere Kostenlose Bücher