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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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provoziert die künstlichen Bedürfnisse, indem sie die natürliche Schönheit abschafft und sie auf weiten Strecken mit dem Industrieabfall bedeckt» [226]  – kann durch sozialdemokratisches Samaritertum nicht durchbrochen werden.
    Camus träumt von einem Europa, das nicht von Tag zu Tag reicher, trauriger und hässlicher wird, in dem niemand mehr «die Freude aus der Welt wegwischt und auf später verschiebt». [227] Eine zustellbare politische Adresse hat dieser Traum nicht.
    Politisch am nächsten steht Camus letztlich den französischen Libertären, zu denen er über die Freundin Rirette Maîtrejean seit seiner Zeit beim
Paris-Soir
gute Kontakte unterhält. Camus’ politische Texte (
Actuelles  II
) werden in der neuen, in Zürich ansässigen anarchistischen Zeitschrift
Témoins
von deren Begründer Jean-Paul Samson in einer ihrer ersten Ausgaben stürmisch begrüßt, und Camus wird dieses Blatt in den nächsten Jahren mit Kommentaren (etwa zum Ungarnaufstand oder zum Arbeiteraufstand in Ostberlin) und mit Rezensionen (etwa über Simone Weil) versorgen.
    Auch der Pariser Anarchistenzeitung
Le Monde libertaire
ist Camus freundschaftlich verbunden. Doch gehen seine gesellschaftspolitischen Träume weit über die des libertären Syndikalismus seiner Zeit hinaus.
    Camus, der nie Angst vor großen Worten hatte, bezeichnet seine Utopie als «die Bewegung des Lebens selbst». Etwas nüchterner, jedoch nicht unbedingt klarer nennt er sie auch: «das mittelmeerische Denken», es bleibt die zentrale Denkfigur – des Menschen, des Werks, der epochalen Auseinandersetzung, die er führt. Camus beendet den Essay
Der Mensch in der Revolte
mit einem Kapitel über das mittelmeerische Denken, die «Pensée de midi». Er tastet sich vor, macht Vorschläge, die wir schon kennen. Das Denken, das er sucht, mag in der «heutigen Welt seinen politischen Ausdruck» im «revolutionären Syndikalismus» finden oder in den «skandinavischen Demokratien». Das kann er sich vorstellen. Doch umfasst die «Pensée de midi» viel mehr als menschenwürdige Politik, Anarcho-Syndikalismus, Solidarität und ein freiheitliches, übernationales Weltparlament. Das alles gehört gewissermaßen nur zu ihrer vernünftigen Außenseite.
    Ihre Innenseite bleibt eher still, weltabgewandt und einsam. Sie holt sich ihre Inspirationen bei einer griechischen Göttin namens Nemesis, der Göttin der Rache, die darüber wacht, dass der Mensch sich nicht überhebt. Für Camus ist sie eine Allegorie der Versöhnung, des Maßes, der Liebe und des Ausgleichs. Er holt sehr weit aus, um sich dieser Göttin zu nähern:
    «Dieses Gegengewicht, dieser Geist, der dem Leben Maß gibt, ist derjenige, der die lange Überlieferung dessen erfüllt, was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem, seit den Griechen, die Natur stets mit dem Werden im Gleichgewicht stand. Die Geschichte der ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist. Gemeinde gegen Staat, konkrete Gesellschaft gegen absolutistische Gesellschaft, überlegte Freiheit gegen rationale Tyrannei, altruistischer Individualismus gegen Kolonisierung der Massen lauten damals die Antinomien, die einmal mehr die Gegenüberstellung von Maß und Maßlosigkeit sichtbar machen, welche die Geschichte des Abendlandes seit der Antike erfüllt. Der eigentliche Konflikt dieses Jahrhunderts besteht […] zwischen den deutschen Träumen und der mittelmeerischen Tradition». [228]
    Ja, die deutschen Träume sollen sich in Europa nicht mehr so breitmachen. Das Europa der Zukunft, das hatte Camus schon in den
Briefen an einen deutschen Freund
geäußert, soll kein deutsches Europa sein. Davon hatten schließlich schon die Nationalsozialisten ständig gesprochen. Anstelle der Deutschen sollen in Europa herrschen: Bescheidenheit, Brüderlichkeit, Einfachheit, Sonne, hartes Licht, rauer Meereswind, natürliche Schönheit, Gleichgewicht, Altruismus und Augenmaß. Solcherart undeutschen Kräften traute Camus zu, die europäische Zukunft zu gestalten; deren überwiegend lateineuropäischer Zuschnitt erinnerte an die alte Mittelmeerutopie seiner Jugend. Ihr hing übrigens auch Alexandre Kojève in einem heute wieder vielbeachteten Aufsatz über das «Lateinische Imperium» an, in welchem er im Jahr  1945 seine Überlegungen zu einer

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