Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Antikommunisten, Gewerkschaftler und Intellektuelle schreiben, die Pierre Mendès France unterstützen, den sozialdemokratischen Politiker und momentanen Außenminister, den Camus bereits im
Combat
verteidigt hatte. Jean Bloch-Michel, Camus’ ehemaliger Mitarbeiter beim
Combat
, und Jean Daniel, während derselben Zeit Chefredakteur der Zeitung
Caliban
, gewinnen Camus für den
Express
, in dem er in den nächsten Jahren regelmäßig schreiben wird – über Algerien, in dem die radikale Befreiungsbewegung FLN stärker und stärker wird, sodass seine reformistische Position bald kaum mehr Gehör findet; über Spanien, gegen dessen Aufnahme in die UNO er protestiert, solange General Franco an der Macht ist; und sogar über Mozart.
Jean Daniel erinnert sich in seinem Buch über Camus an die elektrisierende Anfangszeit des
Express
, als man auf den Fluren Mendès France oder Mauriac treffen konnte, räumt aber auch ein, dass Camus sich in dieser prestigeträchtigen und marktbewussten Redaktion mit ihren ungezwungenen angloamerikanischen Umfangsformen nie wirklich wohlgefühlt habe. [255]
Camus engagiert sich gleichwohl ohne Zögern noch einmal auf der großen weltpolitischen Bühne, in einem politischen Spannungsfeld, das ihn zerreißt. Am 17 . Juni 1953 werden in Ostberlin die Arbeiteraufstände mit Panzern niedergeschlagen. Camus hält schon am Tag danach eine Rede in der Salle de Mutualité in Paris, in der er die ostdeutschen Arbeiter verteidigt. Drei Jahre später folgen die Aufstände in Posen und Budapest. Wieder ist Camus einer der wenigen westeuropäischen Intellektuellen, der sich sofort und bedingungslos auf die Seite der osteuropäischen Aufständischen stellt. «Ein gigantischer Mythos», schreibt er, sei endlich «zusammengebrochen» [256] , nachdem er das europäische Bewusstsein jahrelang pervertiert habe. Auf Jahrzehnte wird man Camus in Osteuropa dafür verehren, in einer Zeit klare und einfache Worte gefunden zu haben, in der die linke Intelligenz in Westeuropa am Schreibtisch saß und an ihren geschichtsphilosophischen Theorien über die Legitimation des Terrors arbeitete. Camus ist nicht stolz auf diesen Sieg. Wenn Millionen Menschen unterdrückt werden und leiden, sei es traurig, sich zugutehalten zu können, dass man ihre Peiniger schon immer kritisiert habe.
Nach der Niederschlagung der Aufstände sieht sich Camus im linken Lager völlig isoliert, wenn nicht sogar verspottet. Gefragt, wer denn seine Verbündeten und Geistesverwandten seien, wird er auf den Pressekonferenzen bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm lediglich zwei Namen nennen: René Char, «unser größter französischer Dichter» [257] , und Simone Weil. Die Werke der tiefgläubigen Philosophin veröffentlichte Camus in seiner Reihe «Espoir» bei Gallimard. Mit Simone Weil verbanden ihn der unbedingte Antitotalitarismus, ihre Nähe zum Griechischen und der sie zuletzt gänzlich aufzehrende Versuch, ihre Mystik, ihr grenzenloses soziales Mitgefühl und ihr politisches Engagement im Denken und im Leben zu vereinen. Eine Textsammlung Weils gab Camus unter dem von ihm gewählten Titel
Griechische Wurzeln
heraus. Und im
Express
lobte er ihr Buch
La Condition ouvrière
am 13 . Dezember 1955 als das «größte und nobelste Werk, das seit der Befreiung erschienen ist». Doch da war Simone Weil schon seit zwölf Jahren tot, verhungert in England, weil sie, das Leid des Weltkriegs vor Augen, buchstäblich keinen Bissen mehr herunterbekam.
Die algerische Tragödie
Der Algerienkrieg ist für Camus persönlich die größte politische Katastrophe überhaupt. Im Februar 1954 ist
L’Été
, sein poetischer und autobiographischer Gesang auf die algerische Heimat, in Paris erschienen. Und am 1 . November 1954 beginnt die algerische Befreiungsfront auf seiner «terre natale» mit einem bewaffneten Aufstand gegen die Franzosen. Das Buch, das noch überall in den Buchhandlungen ausliegt, wird mit einem Mal zu einem der letzten literarischen Dokumente des kolonialen Algerien.
Camus begreift die Wut der arabischen Aufständischen, er hatte als einer der Ersten das Elend der Berber in der Kabylei angeprangert. Doch er wird sich nie mit ihren Zielen abfinden: Ein unabhängiges arabisches Algerien bleibt für ihn undenkbar. Arabische Intellektuelle wie Albert Memmi und Edward W. Said sahen deshalb in Camus einen geistigen und literarischen Wegbegleiter des Kolonialismus. [258]
Seine Argumente für eine gründliche Reform und gegen ein
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