Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Jahrhundert wird erneuern können.» [260]
In seiner Wahlheimat Saint-Germain-des-Prés, deren Bewohner sich für die intellektuelle Schaltzentrale der Welt halten, hat man eine gewisse Übung darin erlangt, seine politischen Visionen zu belächeln und zu verhöhnen – Camus, die «schöne Seele», habe sich mal wieder aus ihrem lebensfremden Abseits zu Wort gemeldet. Jean-Paul Sartre und die Seinen, die ab 1959 die FLN offen unterstützen werden, lehnen jede algerische Lösung, die einen Verbleib der Franzosen in Algerien einschließt, kategorisch ab. In seinem Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialistischem Essay
Die Verdammten dieser Erde
wird der frischgebackene Algerien-Experte Sartre 1961 mit einem unmissverständlichen Seitenblick auf den Reformismus seines inzwischen auf dem Friedhof in Lourmarin ruhenden Rivalen schreiben: «Glauben wir nicht, dass wir unsere Methoden der neuen Situation anpassen könnten! Der Neo-Kolonialismus, dieser faule Traum der Mutterländer, ist Schall und Rauch. Es gibt keine ‹dritte Lösung›, es sei denn eine Schmalspur-Bourgeoisie, die schon der Kolonialismus an die Macht gebracht hat.» [261]
Wieder stehen sich die beiden Großschriftsteller in der Frage, ob die Konflikte des Jahrhunderts mit Terror und Gewalt zu lösen seien, unversöhnlich gegenüber. Sartre, der Camus vorhält, einem veralteten Menschenbild nachzuhängen und der Komplexität der Moderne nicht gewachsen zu sein, hat sich im Nachhinein als der Erbe eines antiquierten Zwei-Fronten-Denkens diskreditiert, das sich mit Nationalisten und Terroristen verbündete und Konflikte durch Gewalt und autoritäre Lösungen bereinigen wollte. Und Camus’ «weiche» politische Vision für den Mittelmeerraum als überstaatliche, europäisch-muslimische Konföderation der vielen Stimmen, des Nichtbegradigens von Unterschieden und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen entspricht mehr denn je dem heutigen Denken in einem postideologischen und universal vernetzten Zeitalter. Das seinerzeit im ultramodernen Paris als antimodern und weltfremd verlachte Denken Camus’ hat sich als das zukunftweisende herausgestellt.
Als der französische Ministerpräsident Guy Mollet am 6 . Februar 1956 in Algier von militanten Kolonialisten mit Tomaten beworfen wird, ist das für Camus das Signal zum – wenn auch verzweifelten – Rückzug.
Im Sommer desselben Jahres lädt er seine Mutter zu sich in die Provence ein, wo er seit Jahren in der Domaine de Palerme, in der Nähe von René Char bei L’Isle-sur-la-Sorgue, in den Ferienmonaten ein Haus bewohnt. Er hat Angst, sie nach Algier zurückkehren zu lassen, und bittet sie, nach den Ferien bei Francine und den Kindern in der Rue Madame in Paris zu logieren. Dort steht die alte Frau dann ein paar Tage in der lichtlosen Wohnung am Fenster und starrt auf die Straße. Sie möchte wieder nach Hause. Ihr fehle das bunte Treiben der Araber, sagt sie, während sie stumm und ergeben wartet, «wie seit Jahrtausenden so viele alte Frauen auf der ganzen Welt warten, dass die Welt vergeht». [262]
Im Jahr 1956 sieht sich Camus auf ganzer Linie als gescheitert an. Seine Frau ist aus dem Fenster gesprungen. Der Rivale Sartre hat sich mit seiner linksorthodoxen Geschichtsphilosophie auf der Rive gauche nach allgemeiner Auffassung durchgesetzt, und die Pariser Mandarine haben Camus aus ihrem Kreis exkommuniziert. In seiner Heimat bekämpfen sich Extremisten, in der Stadt, in der er in seinem Leben am glücklichsten war, wird er niedergebrüllt und mit dem Tode bedroht. Und geschrieben hat er, abgesehen von der Bearbeitung einiger Stücke für das Theaterfestival in Angers, auch nicht mehr viel, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach. Ihn quälen plötzliche Erstickungsanfälle, manchmal auf offener Straße, sodass er in das nächste Taxi stürzt, um sich bei seinem Arzt mit Sauerstoff zu versorgen. Häufig plagen ihn Platzängste, er meidet Menschenmengen und öffentliche Auftritte, besteigt nur noch mit großer Überwindung ein Flugzeug. Camus fühlt sich in die Enge getrieben.
Ein Blick auf die Veröffentlichungen der fünfziger Jahre kann die von ihm selbst kolportierte Legende von der «Schreibkrise» nach seinen Auseinandersetzungen mit Sartre kaum bestätigen. Doch innerlich fühlt er sich zermürbt. Er könne sich nicht mehr vor ein weißes Blatt Papier setzen, so entmutigt sei er, schreibt er an Grenier. Vielleicht sollte er nur noch Theater spielen, warum nicht Filmschauspieler werden?
Weitere Kostenlose Bücher