Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Innenräume des Bürgers, die Camus mit diesem Roman zum ersten Mal betritt, hallen wider von dem leeren Getöse seines falschen Lebens.
Dieses in den langfristigen Werksplänen Camus’ niemals vorgesehene Bekenntnisbuch ist das komplizierteste und ehrlichste, das er je geschrieben hat. Nie war Camus so unerbittlich und zugleich so verbittert und verzweifelt an sich selbst und seiner Epoche wie in diesem Buch. Vom «Erstickungstod» ist die Rede, vom «Dreck», in dem man lebe, von einer engen Folterkammer, in der man sich nicht ausstrecken könne, von einer zweiten, in der man wehrlos festklemme und von jedem, der vorbeikomme, bespuckt werde. Sogar der «Sarg» kommt jetzt ins Spiel.
Die großen Leitbegriffe der ersten beiden Werksphasen, das Absurde und die Revolte, öffneten sich für Neues. Das Absurde ließ sich durch Verachtung überwinden, die Revolte war ein Lasso, das man in die Zukunft warf. Im
Fall
gibt es keinen Notausgang aus der Hölle der Gegenwart. Camus’
Combat
-Kollege Roger Grenier erkannte in dem letzten zu Lebzeiten publizierten Roman seines Freundes das Selbstporträt eines am Erfolg Gescheiterten: «‹Der Fall› und Clamence berichten von der Ernüchterung, bei der ein europäisierter Camus gelandet ist.» [270] Das klingt wie ein Schlusspunkt.
Der Preis
Am 16 . Oktober 1957 isst Camus gerade mit seiner amerikanischen Geliebten Patricia Blake in Paris zu Mittag, als ein Mitarbeiter von Gallimard mit
der
Nachricht aus Stockholm an seinen Tisch tritt. Camus wird sehr blass, stammelt, man solle den Nobelpreis doch lieber Malraux geben. Zu Hause wartet Francine mit den Champagnerflaschen, im Fernsehen zeigt man Camus und seine Mutter. Gallimard gibt am Nachmittag einen Cocktailempfang. Am nächsten Morgen schreibt Camus in sein Tagebuch: «Nobelpreis. Eigenartiges Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Wehmut. Als ich 20 war, arm und nackt, habe ich den wahren Ruhm gekannt. Meine Mutter.»
Die Dramaturgie ist perfekt: Die größtmögliche äußere Anerkennung fällt mit der größtmöglichen inneren Krise zusammen. Noch im selben Monat erleidet Camus drei Erstickungsanfälle, verliert das Gleichgewicht, taumelt durch die Stadt. «Ein paar Minuten lang das Gefühl totalen Wahnsinns», vermerkt er am 29 . Dezember und noch danach endlose Angstzustände, Zittern, Erschöpfung.
Der Gedanke an den Auftritt in Stockholm, an den König, die Königin, die Reden, die Banketts bereitet ihm Albträume. Er vertraut sich brieflich Roger Martin du Gard an. Der versucht, väterliche Ratschläge für Nobelpreisträger zu erteilen, berät Camus aus eigener Stockholmer Erfahrung in Anzug- und Benimmfragen. [271] Doch wie soll der alte Freund, Juristensohn aus Neuilly, katholische Privatschulerziehung, Literaturnobelpreis im Jahr 1937 , verstehen, dass einer es nicht fassen kann, in ein und demselben kurzen Leben eben noch auf dem dunklen Abtritt im Armenviertel Belcourt und kurz darauf im Frack vor dem schwedischen König zu stehen?
Am 8 . Dezember 1957 besteigt Camus im Gefolge von Francine, Michel und Janine sowie Claude und Simone Gallimard den Express-Zug nach Schweden. Die Verleihung des Preises findet am 10 . Dezember im Stockholmer Konzerthaus statt. Francine sitzt im weißen schulterfreien Kleid mit weißer Pelzstola in der ersten Reihe unter den Exzellenzen wie die Fee aus dem Märchenbuch. Camus gibt den Nobelpreisträger als demütig würdevollen Laureaten, der gemessenen Schrittes den Raum durchschreitet und sich, ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen, vor seinem Publikum verneigt.
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König Gustav VI . überreicht die Nobelpreisurkunde, 1957
Nach der Übergabe des Schecks und der Medaille hält Camus im Rathaus seine dem alten Grundschullehrer Germain aus Algier gewidmete Nobelpreisrede, die ein unnachahmlicher Zwitter aus aufrichtigen Bekenntnissen und hochmögenden Phrasen ist, also genau das Richtige für diesen Anlass. Mit kraftvollen Strichen zeichnet er noch einmal das Porträt seiner Generation:
«Diese zu Beginn des Ersten Weltkriegs geborenen Menschen, die eben zwanzig geworden waren, als zur gleichen Zeit das Hitler-Regime und die Tage der ersten Revolutionsprozesse anbrachen, die sich dann zur Vervollständigung ihrer Erziehung dem Spanischen Bürgerkrieg, dem Zweiten Weltkrieg, den Konzentrationslagern, dem Torturen und Gefängnissen anheimgefallenen Europa gegenübergestellt sahen, müssen heute ihre Söhne und ihre Werke in einer Welt
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