Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
und Camus’ Versuch, Algerien durch eine «Ethik der Gastfreundschaft» zu versöhnen, wie sie der algerische Philosoph Jacques Derrida vierzig Jahre später entwerfen wird [265] , ist gescheitert. Im letzten Satz heißt es: «In diesem weiten Land, das er» – der Dorfschullehrer – «so sehr geliebt hatte, war er allein.»
Die Bilanz der sechs Erzählungen ist niederschmetternd: Einem Helden ist die Zunge abgeschnitten worden («Der Abtrünnige oder Ein verwirrter Geist»), dem nächsten der Lebensraum («Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit»), dem dritten das Lebensrecht («Der Gast»), der vierte verliert seinen Stein und auch den Elan, mit dem im Werk dieses Autors einmal Steine geschleppt wurden («Der treibende Stein»). Das Ende der Reise ist in allen Erzählungen eine Sackgasse, eine Höhle, eine Hütte, ein Holzverschlag. Es fehlt nur noch der Sarg – Catherine Sellers hat berichtet, ihr Geliebter habe in diesen Jahren und insbesondere nach der Nobelpreisverleihung sehr ernsthaft mit Selbstmordgedanken gespielt. Das wortkarge Heroentum, das Camus und seine Figuren Meursault, Sisyphos, Dr. Rieux und Tarrou zu Ikonen einer männlichen, desillusionierten Nachkriegsmoderne gemacht hat, stößt Ende der fünfziger Jahre an eine Grenze. Und Camus ist feinfühlig genug, die Zeichen der Zeit zu lesen.
Als sich das schwedische Nobelpreiskomitee im Erscheinungsjahr des Erzählungsbandes dafür entscheidet, den erst 43 -jährigen Albert Camus zu ehren, behaupten böse Stimmen, er erhalte den Nobelpreis für ein «abgeschlossenes Werk». Selbst der alte Freund Pascal Pia meldet sich mit der Ansicht zu Wort, aus Camus sei ein «weltlicher Heiliger» geworden, der den Preis für einen «überholten Humanismus» erhalte. Und in diesem einen Fall waren Camus und seine Kritiker sich sogar einig, wenn sie meinten: Von dem Mann kommt nichts mehr.
Der Fall
Die Erzählungen in
Das Exil und das Reich
waren der letzte Versuch Camus’, sich mit den erfolgserprobten Mitteln seiner existenziellen Allegorien am eigenen Schopf aus der Krise zu ziehen, welche zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch darin bestand, dass sich diese Mittel erschöpft hatten. In der unübersichtlicher und farbiger gewordenen Gegenwart wirkte seine existenzielle Großmetaphorik wie die monumentale Kulisse für einen veralteten Schwarzweißfilm.
Der Fall
, ein Jahr vor den Erzählungen publiziert, war hingegen etwas völlig Neues. Ort der Handlung ist das neblige, kalte Amsterdam, der Held ein Pariser Bourgeois und Jurist, die Schreibweise ungewohnt ausufernd, für Camus’ Verhältnisse beinahe geschwätzig. Zum ersten Mal betrat Camus in diesem Roman-Monolog die von modernen Wohlstandsbürgern bevölkerten Schlechtwettergebiete der Literatur, die einen Autor der Einfachheit, der Sonne und des Lichts seiner Ansicht nach eigentlich nicht zu interessieren brauchten. Seine Recherchereise für das Buch fiel entsprechend kurz aus. Vom 4 . bis 7 . Oktober 1954 reiste er erstmals in die Niederlande.
Zwei Tage verbringt er in Amsterdam, wo er eine Grachtenfahrt unternimmt und am Abend durch die Altstadt spaziert. Das Wetter ist wie erwartet: «Es regnet über der ganzen Stadt, anhaltend, ohne Möglichkeit, Atem zu holen.» In Den Haag fallen ihm Holländer auf: «oben auf den Fahrrädern mit den hochragenden Lenkstangen sitzend, machen sie wie Trauerschwäne die Runde um den kalten Vijver, zwischen den lebenden Aalen des Fischmarkts und den wunderbaren Schmucksachen der hässlichen Auslagen, von der gleichen Farbe wie die überall am Boden klebenden dürren Blätter, und die geräucherten Heringe, die lange durch die Meere aus Altgold gezogen sind.» [266]
Sein Alter Ego Jean Clamence stellt Camus in eine Amsterdamer Matrosenspelunke, lässt ihn Wacholderschnaps trinken und vor einem stummen Gegenüber eine Kneipenbeichte ablegen. Die Sünden, deren er sich anklagt, lauten Heuchelei im bürgerlichen Liebes- und Geschäftsverkehr sowie Mangel an christlichen Tugenden wie Altruismus und Hilfsbereitschaft. Niemals, klagt der Pariser Karrierejurist, habe er eine Sache um ihrer selbst willen getan. Keine Frau habe er wirklich geliebt, nichts habe ihn je berührt, alles sei stets an ihm abgeglitten, nie habe er wahrhaft glauben können, «dass die Angelegenheiten der Menschen ernst zu nehmen seien». Sein ganzes Leben sei reine Schauspielerei gewesen, einzig dazu da, sein Ego zu mästen.
«Ich war vertraulich zur rechten Zeit, schweigsam, wenn es
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