Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Steinterrasse
Lourmarin, das die Eremitage des vom Paris-Ekel geschüttelten Nobelpreisträgers werden soll, liegt siebzig Kilometer von Avignon und vierzig von Aix-en-Provence entfernt. Vielbefahrene Kilometer, denn schon damals ist das Dorf für sein Renaissance-Schloss bekannt, das, seit den dreißiger Jahren im Besitz der Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Aix-en-Provence, als ein Tagungsort für Künstler und Wissenschaftler genutzt wird. Camus’ idealer Vorstellung von einer Einöde entspricht das inzwischen zu einem der 157 «schönsten Dörfer Frankreichs» ernannte und touristisch gut erschlossene Dorf im Lubéron insofern keineswegs. Die Freunde René Char und Jean Grenier erhalten die wortgleiche, betont unbetonte Nachricht, er habe sich in Lourmarin ein hübsches («jolie») Haus gekauft. An Grenier mit dem Zusatz: «Ich folge Ihren Fußspuren». [279] An Char: «Ich treffe Sie hier auf allen Wegen». [280] Die Einsamkeit von Lourmarin ist also ziemlich bevölkert.
Mit Leidenschaft beginnt der zukünftige Eremit, der sich am glücklichsten in kargen Hotelzimmern wähnt, das geräumige alte Haus linkerhand an der Straße zwischen Dorfbrunnen und Kirche zu möblieren, besucht die Antiquitätenhändler der Gegend und kauft spanisch anmutende dunkle Holzmöbel. Aus Algerien ordert er einen Esel, vielleicht träumt er davon, auf dem biblischen Tier durch die umliegenden Weinberge zu reiten, die ihn an seine Heimat erinnern. Seine spartanische Klosterzelle richtet er sich in einem kleinen Zimmer ein, in das nur ein Schreibtisch und ein unbequemes schmales Holzbett passen. Dem Freund Urbain Polge sagt er: «Mir gefällt, dass ich endlich den Friedhof gefunden habe, wo man mich begraben wird. Dort werde ich gut liegen». [281]
Bevor es so weit ist, sitzt der Autor auf der Suche nach einer «neuen Wahrheit» an seinem Schreibtisch mit Blick auf den Friedhof und beginnt das seit langem geplante Buch
Der erste Mensch
– es soll das Zeugnis einer Wiedergeburt werden. Und es soll ganz anders werden als
Der Fall
, der ein Zeugnis seines Scheiterns war; in dem er einmal alles auf die Spitze getrieben hatte, um sich davon zu befreien. Auf seinem Tisch liegen neben einem Stapel weißer Blätter, die jeweils seinen Namen tragen, zwei kleine Spiralhefte mit Gedanken und Notizen. Er schreibt mit fliegender Hand, ohne Punkt und Komma, manchmal fast ohne die Feder abzusetzen, in einer einzigen fließenden Linie. Francine und Catherine werden Jahrzehnte brauchen, um das Manuskript zu entziffern.
Es sind starke Bilder, die Camus’ Leben im Schlussteil bereithält: Der Schriftsteller sitzt in seinem lang ersehnten Haus und schreibt an seinem Lebensbuch, das alles enthalten und alles einlösen soll, was ihn ausmacht. Bei gutem Wetter arbeitet Camus unter freiem Himmel auf der Terrasse mit den Blättern auf den Knien. Diesmal soll alles leicht gehen und wie von selbst, ohne Krampf, ohne die Schweißarbeit, die
Der Mensch in der Revolte
für ihn war. Im Notizbuch ermahnt er sich:
«Sich von jeder Rücksicht auf Kunst und Form befreien. Den direkten Zugang ohne Vermittlung, d.h. die Unschuld wiederfinden. Hier die Kunst vergessen
heißt sich vergessen
. Von sich selbst absehen, nicht aus Tugend. Im Gegenteil seine Hölle annehmen. Wer besser sein will zieht sich vor, wer genießen will zieht sich vor. Nur der sieht von dem ab, was er ist, wer
das
akzeptiert,
was
die Konsequenzen mit sich bringen. Der ist dann direkt angeschlossen.
Durch diese Unschuld zweiten Grades die Größe der Griechen oder der großen Russen wiederfinden. Sich nicht fürchten. Nichts fürchten … Doch wer wird mir zu Hilfe kommen!» [282]
Was für ein waghalsiges Unternehmen, mitten im Algerienkrieg ein Buch über die französischen Siedler in Algerien zu schreiben, die das Gewehr noch im Schlaf neben sich halten – und darin eine Unschuld zweiten Grades zu suchen! Francine Camus sowie Jean und Catherine haben das Manuskript, nachdem es endlich entziffert war, lange zurückgehalten, um den Wehrlosen nicht noch einmal dem Vorwurf auszusetzen, er habe sich aus der Geschichte verabschiedet. Als Catherine Camus sich 1994 dazu entschließt, den
Ersten Menschen
herauszugeben, wird das Buch 34 Jahre nach dem Tod des Vaters, 14 Jahre nach dem Tod Sartres, fünf Jahre nach dem Mauerfall und drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als eines der Meisterwerke des 20 . Jahrhunderts gefeiert.
Als Einsiedler in seinem neuen Haus
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