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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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not tat, der heiteren Ungezwungenheit ebenso fähig wie der würdigen Förmlichkeit, und traf immer den richtigen Ton. Ich war denn auch sehr beliebt und hatte zahllose gesellschaftliche Erfolge. Ich besaß ein angenehmes Äußeres, erwies mich sowohl unermüdlich beim Tanzen als auch unaufdringlich gebildet im Gespräch, ich brachte es fertig, gleichzeitig die Frauen und die Gerechtigkeit zu lieben, was gar nicht einfach ist, ich betrieb Sport und war den schönen Künsten zugetan.» [267]
    Trotz seiner brillanten Begabung zu Täuschung und Rollenspiel, wie sie zu einer Laufbahn in höher entwickelten Gesellschaften seit je gehört, brennt im Herzen dieses Pariser Advokaten die Sehnsucht nach Authentizität – nach dem berühmten echten Leben. Zumindest in der Liebe wünscht sich selbst der durchtriebenste Mensch gelegentlich ein Ende der Simulationen. Umso enttäuschter ist der «Held unserer Zeit», wie Camus den Roman zunächst nennen wollte, als er sich auch in der Liebe lediglich als ein unersättlicher Konsument erweist, der um eines erotischen Profits willen Gefühle vortäuscht. Sobald das Verlangen gestillt war, so gesteht er in seiner Beichte, langweilten ihn die Frauen entsetzlich, und die nächste musste der übernächsten weichen.
    Es ist unnötig, darauf hinzuweisen, dass Clamence nicht Camus ist, doch steckt nicht nur phonetisch sehr viel Camus in Clamence. Auch Camus langweilt sich bekanntlich mit den Frauen, die er nicht begehrt. Auch Camus unterhält seit jeher viele Liebesbeziehungen gleichzeitig. Auch Camus unterbricht jedwede Unterhaltung im Café, um eine neue Eroberung zu machen. Die dänische Kunststudentin Mi lässt der Starautor, den sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Schauspielerinnen Maria Casarès und Catherine Sellers teilen müssen, im Café de Flore durch einen Freund an seinen Tisch bitten. Von da an zeigt der Nobelpreisträger sich überall mit der attraktiven Zweiundzwanzigjährigen, ohne daran zu denken, seine anderen Liebesverhältnisse zu beenden; im Sommer  1958 summieren sie sich zu einer Haupt- und zwei Nebenmätressen zuzüglich einer deprimierten Ehefrau. Mit Maria Casarès und den Gallimards segelt er in griechischen Gewässern, mit der blonden Mi und René Char fährt er in seinem alten Citroën durch die Provence, mit Francine und den Kindern entspannt er sich in der Vaucluse, während er die dänische Studentin im Nachbardorf Saint-Jean einquartiert. Zumindest logistisch eine Meisterleistung.
    Als Francine Camus, von ihrem Fenstersturz und den Elektroschocks der psychiatrischen Behandlung gerade genesen, das Manuskript des ihr gewidmeten Romans
Der Fall
liest und zu der Stelle kommt, an der eine Frau sich vom Pont Royal in die Seine stürzt und der selbstverliebte Verführer Clamence nicht zu ihrer Rettung eilt, sagt sie zu ihrem Mann, dass sie in diesem Buch ihrer beider Geschichte wiedererkenne, und fügt hinzu: «Dauernd setzt du dich für die gute Sache der einen oder der anderen ein. Aber hörst du auch die Schreie, die dir gelten?» [268]
    Immerhin macht Camus, der sich für den Fenstersprung seiner Frau, wie erwähnt, verantwortlich, jedoch nicht an ihm schuldig fühlte, diesem Clamence den Prozess. Er beginnt mit einem langen Geständnis – «welche Schwierigkeiten mir die endgültige Trennung von einer Frau bereitete, ein Umstand, der mich zu so vielen gleichzeitigen Liebschaften führte» – und bricht kurz vor der Urteilsverkündung ab. Sollte man den skrupellosen Verführer vielleicht mit dem Tod bestrafen? Clamence erwägt diese Lösung. Er imaginiert sich in seiner letzten großen Rolle als Büßer unter dem Fallbeil:
    «Dann würden Sie meinen noch lebenswarmen Kopf über das versammelte Volk erheben, auf dass es sich in ihm erkenne und ich es abermals beispielhaft beherrsche. So wäre denn alles vollbracht, und ich hätte meine Laufbahn als falscher Prophet, der in der Wüste ruft und sich weigert, sie zu verlassen, ganz unversehens beendet.» [269]
    Von Meursault hatte Camus gesagt, er sei «der einzige Christus, den wir verdient haben». Jean Clamence ist jetzt nur noch ein Christusdarsteller, ein Lebensschauspieler, wie sie das ironische Zeitalter in Serie hervorbringen wird. Seine große Selbstanklage ist lediglich eine weitere, noch raffiniertere Inszenierung im Aufrichtigkeitstheater dieser Figur, deren Kritik der Eloquenz so schrecklich eloquent, deren Klage über Täuschung und Verstellung hohe Schauspielkunst ist. Die seelischen

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