Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
schreibt Camus in wenigen Monaten, begleitet von den gewohnten Klagen und der Angst zu versagen, den
Ersten Menschen
in einer klassisch schlichten Prosa, die weit entfernt ist von den Raffinessen des Pathos und der Tonlosigkeit, die er so gut beherrscht. Er schreibt sich ins einfache Leben zurück.
Der Traum vom Buch der Einfachheit
Der Literaturtheoretiker und Semiologe Roland Barthes, zwei Jahre jünger als Camus und diesem als kritischer Begleiter seiner Werke von Anfang an verbunden, träumte in seinen letzten Lebensjahren davon, einmal etwas gänzlich Neues zu schreiben, etwas völlig anderes als jemals zuvor. Es ist derselbe Traum, der Camus bei der Niederschrift seines letzten Romans begleitet. Bei einem Besuch der marokkanischen Karawanenstadt Fés kommt Roland Barthes die Eingebung, was für ein Buch das sein könnte, nämlich ein unerbittlicher, wahrer autobiographischer Roman, Stoff des erinnerten und ersehnten Lebens. Er hat sogar schon den auf Dante anspielenden Titel seines noch ungeschriebenen Buches im Kopf, «Vita nova», «Das neue Leben», soll es heißen – und das klingt fast ein bisschen wie
Der erste Mensch
. Doch anders als Camus wird Roland Barthes diesen wahren Roman niemals schreiben, hat er doch, abgesehen vom
Tagebuch der Trauer
, das unter dem Eindruck des Todes seiner Mutter entstand, noch nie literarische Prosa verfasst. Statt des Romans schreibt er wieder nur Vorlesungen zur «Vorbereitung des Romans» – und stirbt einen Camus-Tod. Kaum hat er die Vorlesungsreihe zur «Vorbereitung des Romans» im Collège de France beendet, wird er in der Rue des Écoles von einem Kleinlaster überfahren.
Albert Camus und Roland Barthes sind die zwei berühmtesten Verkehrsunfallopfer der französischen Literatur. Beide sind Kinder des Großen Kriegs – auch Roland Barthes verlor seinen Vater im Ersten Weltkrieg und vergötterte seine Mutter –, und beide beginnen ihre Karriere im Zeichen der ideologischen und moralischen «Wüste» der Zwischenkriegszeit an einem «Nullpunkt der Literatur». Dieses Schlagwort für eine neutrale, noch nicht literaturgeschichtlich oder soziologisch kartographierte «weiße Schreibweise» («écriture blanche») hat Roland Barthes 1953 in seinem ersten Buch geprägt, und zwar in besonderem Hinblick auf den
Fremden
, der elf Jahre zuvor an diesem Nullpunkt entstanden war.
Am Ende ihres Lebens suchen also beide nach einer neuen, starken authentischen Schreibweise. Und wieder ist es Roland Barthes, der dem Projekt die ästhetischen Begriffe liefert, und ist es Camus, der das Buch schreibt. Am Ende seiner letzten Vorlesung, zwei Tage vor seinem Unfall, definiert Roland Barthes die gesuchte Schreibweise erstmals genauer als eine
«Schreibweise der Einfachheit»
: «Einfachheit im starken Sinne zu verstehen: nicht als vage Eigenschaft des WERKES , die man ihm in einer Unterhaltung oder einer Zeitungsrezension zubilligen würde, sondern im Sinne eines echten ästhetischen Prinzips, eines SCHULPRINZIPS : einer neuen ÄSTHETIK .» [283] Und der Kritiker nennt auch genaue Merkmale für die
Werke der Einfachheit
: Erstens «unterwirft sich das Werk freiwillig und konstruktiv einer Ästhetik der Lesbarkeit»; zweitens «verzichtet das Werk auf den metasprachlichen Code»; drittens «ahmt das Werk andere Autoren nicht nach und verzichtet auf ein komplexes System unsichtbarer Anführungszeichen». Konkret, direkt und kunstlos lebt Barthes’ späte Ästhetik der Einfachheit von einer Utopie der Transparenz und der elementaren literarischen Kraft.
Camus’ «Vita Nova»-Projekt – der Roman
Der erste Mensch
– und seine Spiralhefte mit den Notizen zu einer Ästhetik der Rücksichtslosigkeit «auf Kunst und Form», die aus dem Autowrack neben der Leiche Camus’ geborgen werden, kann der Literaturtheoretiker nicht kennen. Sie liegen, als Roland Barthes am 26 . März 1980 stirbt, zwei Kilometer vom Unfallort in der Rue des Écoles entfernt bei Catherine und Jean Camus in der Rue Madame und warten auf ihre Veröffentlichung. [284]
Dieser Traum von einem letzten Lebensbuch jenseits aller Kunst und Poesie, den der Literaturtheoretiker und der Autor an ihrem Lebensende geträumt haben, verbindet die beiden Männer, die sich im Leben selten begegnet sind und nur wenige Briefe ausgetauscht haben. Und es ist eine bestechende Idee – zum Schluss alles von sich werfen, noch einmal neu anfangen, ohne jeden Ballast eines abgelebten Lebens, einfach losmarschieren, in die
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